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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2018 — 2019

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B. Die Mitglieder
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I. Antrittsreden
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Schahadat, Schamma: Antrittsrede vom 21. Juli 2018
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https://doi.org/10.11588/diglit.55650#0159
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Antrittsrede von Schamma Schahadat

Indem ich diese „Schwellenphase“ ritualhaft jeden Dienstagmorgen aufs neue be-
trat, den Raum der Realität verließ und in die Fiktion (und die Literaturwissen-
schaft) eintauchte, verwandelte ich mich von der naiven Leserin, die ich vorher
gewesen war, in eine intellektuelle, nicht mehr unschuldige Studentin, die zwi-
schen, unter und hinter den Zeilen liest. Denn in diesem Seminar habe ich lesen
gelernt. Gelernt, auf die unsichtbaren Zeichen zu achten, die unter der Oberfläche
liegen, auf den podtekst, den Subtext. Ich habe verstanden, dass der alte Diener Firs
aus Anton Cechovs Kirschgarten nicht nur taub ist, weil er alt ist, sondern weil er in
seiner Schwerhörigkeit die ganze Kommunikationsunfähigkeit des Dramas, ja, der
anbrechenden Moderne verkörpert. Völlig fasziniert hat mich damals der Anfang
des 2. Aktes: Sarlotta, Dunjasa und Epichodov sitzen auf einer Bank auf einem
Feld neben dem Kirschgarten:
„Sarlotta (in Gedanken): Ich habe keinen echten Pass, ich weiß nicht, wie alt ich bin, und
dabei glaube ich, dass ich noch jung bin. Als ich ein kleines Mädchen war, da fuhren mein
Vater und meine Mutter über die Jahrmärkte und gaben Vorstellungen, sehr gute. Und ich
sprang den salto mortale und machte verschiedene Kunststücke. Und als Papa und Mama
gestorben sind, nahm eine deutsche Dame mich zu sich und begann, mich zu unterrichten.
Gut. Ich wurde erwachsen, dann arbeitete ich als Gouvernante. Aber woher ich bin und
wer ich bin - das weiß ich nicht ... Wer meine Eltern sind, vielleicht waren sie gar nicht
verheiratet ... ich weiß es nicht. (Sie holt aus ihrer Tasche eine Gurke und isst.)
Nichts weiß ich.
Pause
Ich möchte so gerne mit jemandem reden, aber mit wem ... Ich habe niemanden.
Epichodov (spielt auf der Gitarre und singt.) „Was brauch die lärmende Welt, was
brauch ich Freund und Feind ...“ Wie angenehm es ist, auf der Mandoline zu spielen.
Dunjasa. Das ist eine Gitarre, keine Mandoline. (Sie schaut in einen Spiegel und pu-
dert sich.)“8

8 „IHapnoTTa (b pasflyMbe). Y mchjt hct HacTomaero nacnopra, a ne 3Haio, CKonbKO Mae zier,
m MHe Bee Ka>KeTCH, hto h MononeHbKaa. Kor^a a 6bina MaaeHbKoü fleBOHKoü, to mom oreu, n
MaMama eaflMTiM no apMapKaM n flaBaan npeflCTaßaeHMa, oneHb xopomnc. A a npbirana salto
mortale m pasHbie niTymcn. M Korßa nanama m MaMama VMcpnir, mchh B3ana k ce6e oflHa He-
MepKari rocno:>Ka n crana mchji ymiTb. Xopomo. H Bbipocna, ootom nomna b ryßepHaHTKM. A
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eT H3 KapMana orypen, m ecT.) Hmrero He 3Haio. flayaa. Tax xonerca noroßopMTb, a He c kcm...
Hmkoto y mchh hct. EnnxoflOB (urpaeT Ha rurape m noer). «Hto mhc flo myMHoro CBeTa, hto
MHe flpysbH m Bparn...» KaK npmiTHo nrpaTb Ha MaH/jo/nme!“ - Ich zitiere aus der Online-
Ausgabe http://chehov.niv.ru/chehov/text/vishnevyj-sad.htm (Zugriff 30.6.2018); die Über-
setzung aus dem Russischen stammt von mir.

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