Festvortrag von Otfried Höffe
wahrhaftig, man sagt auch authentisch. Die Tiefendimension dieses Begriffs ist die
existentielle Wahrheit, für Jaspers die Liebe.
Nach dem epistemischen Begriff treffen Dinge oder Sachverhalte zu. Nach
dem epistemologischen Begriff besteht die Wahrheit - so deren Korrespondenz-
theorie - in der Übereinstimmung von Denken und Sache bzw. Sachverhalt. Nach
dem vierten, ontischen Begriff kommt es auf die volle, uneingeschränkte Erfül-
lung von Seiendem, beim ethischen Begriff auf ein volles Menschsein an. Schon
ein rascher Überblick stößt also auf eine Mehrzahl, genauer auf ein Quartett, zu-
sätzlich auf eine doppelte Tiefendimension, eine außerhumane und eine humane
Vollendung.
Selbst diese Vierzahl ist noch unvollständig, denn man spricht von Wahrheit
auch bei Kunstwerken, ferner bei Traditionen und bei Religionen, selbst bei Ge-
fühlen und Gebärden. Es gibt alsofünftens einen Kunstbegriff der Wahrheit, für den
sich beispielsweise Hans-Georg Gadamer in seinem Werk Wahrheit und Methode
stark macht, zusätzlich, sechstens, eine Wahrheit der geschichtlichen Überlieferung,
siebentens einen Begriff religiöser Wahrheit und achtens einen Begriff emotionaler
Wahrheit.
Ob man beim ersten Quartett bleibt oder zusammen mit dem zweiten Quar-
tett ein Oktett vorzieht, in beiden Fällen gibt es eine Vielzahl von Wahrheiten und
trotzdem nicht mehrere Wahrheiten. Auch das Wesen der Wahrheit muss nicht
bedroht sein. Denn der Plural betrifft nicht die Wahrheit, sondern die Begriffe
der Wahrheit, so dass es bei jedem einzelnen Begriff noch die eine Wahrheit, die
Wahrheit, geben könnte. Ebenso wenig zeichnet sich eine Wahrheit im Überfluss
ab. „Überfluss“, der konträre Gegensatz zur Knappheit, herrscht dort, wo es von
einer Sache weit mehr als nötig gibt; dort, wo man sich in einem quantitativen
Luxus bewegt, so dass man kaum weiß, wie man die Sache sinnvoll verwendet.
Überfluss hat mit Überschuss und Übermaß zu tun, mit Verschwendung und
Vergeudung, mit Überfülle und Übersättigung, was für keinen der skizzierten Be-
griffe zutrifft.
Setzt man beim ersten Quartett an, so sieht man, dass keiner der genannten
Verwendungsbereiche, weder die Lebensorientierung noch das Wissen, weder die
Erkenntnistheorie noch das Seiende, dem Gesichtspunkt der Wahrheit enthoben
ist; keiner der Bereiche erscheint als unnötig. Der einfache Beleg: Kein Bereich
kann durch einen anderen ersetzt oder unter ihn subsumiert werden; ebenso we-
nig kann man einen von ihnen als unerheblich beiseiteschieben. Nicht zuletzt
ist daran zu erinnern, dass in Strafprozessen deshalb von Angeklagten und von
Zeugen die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit gefordert
wird, weil selbst unter Freunden vorkommt, was im Geschäftsleben und in der
Politik beinahe üblich ist: Man bietet Halbwahrheiten an, selten hingegen, wie
es in Shakespeares Wintermärchen heißt, die „reinste Wahrheit“ (1. Aufzug, 2. Sze-
ne), oder wie in Francis Scott Fitzgeralds Großem Gatsby „Gottes reine Wahrheit“.
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wahrhaftig, man sagt auch authentisch. Die Tiefendimension dieses Begriffs ist die
existentielle Wahrheit, für Jaspers die Liebe.
Nach dem epistemischen Begriff treffen Dinge oder Sachverhalte zu. Nach
dem epistemologischen Begriff besteht die Wahrheit - so deren Korrespondenz-
theorie - in der Übereinstimmung von Denken und Sache bzw. Sachverhalt. Nach
dem vierten, ontischen Begriff kommt es auf die volle, uneingeschränkte Erfül-
lung von Seiendem, beim ethischen Begriff auf ein volles Menschsein an. Schon
ein rascher Überblick stößt also auf eine Mehrzahl, genauer auf ein Quartett, zu-
sätzlich auf eine doppelte Tiefendimension, eine außerhumane und eine humane
Vollendung.
Selbst diese Vierzahl ist noch unvollständig, denn man spricht von Wahrheit
auch bei Kunstwerken, ferner bei Traditionen und bei Religionen, selbst bei Ge-
fühlen und Gebärden. Es gibt alsofünftens einen Kunstbegriff der Wahrheit, für den
sich beispielsweise Hans-Georg Gadamer in seinem Werk Wahrheit und Methode
stark macht, zusätzlich, sechstens, eine Wahrheit der geschichtlichen Überlieferung,
siebentens einen Begriff religiöser Wahrheit und achtens einen Begriff emotionaler
Wahrheit.
Ob man beim ersten Quartett bleibt oder zusammen mit dem zweiten Quar-
tett ein Oktett vorzieht, in beiden Fällen gibt es eine Vielzahl von Wahrheiten und
trotzdem nicht mehrere Wahrheiten. Auch das Wesen der Wahrheit muss nicht
bedroht sein. Denn der Plural betrifft nicht die Wahrheit, sondern die Begriffe
der Wahrheit, so dass es bei jedem einzelnen Begriff noch die eine Wahrheit, die
Wahrheit, geben könnte. Ebenso wenig zeichnet sich eine Wahrheit im Überfluss
ab. „Überfluss“, der konträre Gegensatz zur Knappheit, herrscht dort, wo es von
einer Sache weit mehr als nötig gibt; dort, wo man sich in einem quantitativen
Luxus bewegt, so dass man kaum weiß, wie man die Sache sinnvoll verwendet.
Überfluss hat mit Überschuss und Übermaß zu tun, mit Verschwendung und
Vergeudung, mit Überfülle und Übersättigung, was für keinen der skizzierten Be-
griffe zutrifft.
Setzt man beim ersten Quartett an, so sieht man, dass keiner der genannten
Verwendungsbereiche, weder die Lebensorientierung noch das Wissen, weder die
Erkenntnistheorie noch das Seiende, dem Gesichtspunkt der Wahrheit enthoben
ist; keiner der Bereiche erscheint als unnötig. Der einfache Beleg: Kein Bereich
kann durch einen anderen ersetzt oder unter ihn subsumiert werden; ebenso we-
nig kann man einen von ihnen als unerheblich beiseiteschieben. Nicht zuletzt
ist daran zu erinnern, dass in Strafprozessen deshalb von Angeklagten und von
Zeugen die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit gefordert
wird, weil selbst unter Freunden vorkommt, was im Geschäftsleben und in der
Politik beinahe üblich ist: Man bietet Halbwahrheiten an, selten hingegen, wie
es in Shakespeares Wintermärchen heißt, die „reinste Wahrheit“ (1. Aufzug, 2. Sze-
ne), oder wie in Francis Scott Fitzgeralds Großem Gatsby „Gottes reine Wahrheit“.
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