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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2019 — 2020

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2019
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I. Jahresfeier am 18. Mai 2019
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Höffe, Otfried: Karl Jaspers, ein europäischer Denker: Festvortrag
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https://doi.org/10.11588/diglit.55176#0034
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I. Jahresfeier am 18. Mai 2019

Lieber verdreht man die Wahrheit oder versteckt sie, und besonders gern in der
Politik und am Krankenbett bedient man sich einer Notlüge, euphemistisch weiße
Lüge („white lie“) genannt.
Schon diese wenigen Bemerkungen deuten an, dass die Wahrheit eine lei-
denschaftliche Seite hat, deren Kern paradox ist. Die Leidenschaft der Wahrheit
hegt in jener leidenschaftslosen Leidenschaft, die man mit der Forderung „sine
ira et Studio“ meint: dass man die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sucht,
unbeirrt von persönlichen Interessen, gesellschaftlichen Vorurteilen und politi-
schem Druck, auch unabhängig von einem erwarteten Lohn oder einer drohen-
den Strafe.
IK Wahrheit im Plural 2: Jaspers
In seiner siebenstufigen Phänomenologie der Vernunft beginnt Jaspers (1) mit
dem leibhaften Erfahrungsraum, dem bloßen „Dasein“. Daran schließt er (2)
das Medium allgemeingültigen Denkens, das „Bewusstsein überhaupt“, sodann
(3) den „Geist“ an, weiterhin, als Inbegriff kulturell geschichtlicher Gehalte,
(4) die „Welt“. Die nächste Stufe (5), das emphathische Selbstseinkönnen, wird
„Existenz“ genannt. Mit ihr lebt der Mensch (6) auf etwas, das sowohl die Per-
son als auch die Welt übersteigt, daher „Transzendenz“ heißt. (7) Die „Vernunft“
schließlich, das, mit Kant gesprochen, auf Ideen gerichtete Denken, ist das Me-
dium, in dem die genannten sechs Weisen des Umgreifenden aufeinander bezo-
gen und in ihrer Wahrheit entborgen werden. Dies ist der Grund, warum Jaspers
seine Philosophie statt „Existenzphilosophie“ lieber „Philosophie der Vernunft“
nennt.
Jeder dieser sieben Gestalten entspricht nun ein eigener Wahrheitssinn. Die
heute vielerorts dominante epistemische Wahrheit wird damit anerkannt, zugleich
aber in ihrer Dominanz, noch mehr in ihrem oft unverhohlen auftretenden Exklu-
sivanspruch verworfen. Die epistemische Wahrheit wird lediglich zu einem Wahr-
heitssinn neben sechs anderen, darüber hinaus zur bloß zweiten Stufe von sieben
möglichen, zunehmend anspruchsvolleren Gestalten relativiert.
Bei den Griechen heißt die Wahrheit aletheia. Den Wortstamm leth, „verbor-
gen“, kennt man aus der griechischen Mythologie als jenen Fluss der Unterwelt,
Lethe, aus dem die Seelen der Verstorbenen „Vergessen“ trinken. Nun wird im
Ausdruck aletheia der Stamm durch das vorangesetzte Alpha privativum (<?-) ver-
neint. Daher kann man dem anderen großen deutschen Existenzphilosophen,
Martin Heidegger (1943), folgen und a-letheia mit „Unverborgenheit“ überset-
zen. Diese wird von Jaspers zu einem „Drang zum Offenbarwerden“ (Wahrheit,
380) dynamisiert. Gemeinsam mit Heidegger ist ihm, dass etwas Verborgenes zum
Licht kommt, indem es entweder ans Licht gebracht wird oder sich von alleine ans
Licht drängt.

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