Festvortrag von Otfried Höffe
Allerdings ist es oft fraglich, ob tatsächlich etwas ins Licht gelangt oder man
eher einer Täuschung, einer Illusion erliegt. Entsprechende Theorien der Illusion
gibt es in der Philosophie seit Parmenides und Platon, in der Neuzeit etwa seit
Francis Bacon und besonders radikal in Kants Dialektik aus der Kritik der reinen
Vernunft, denn für Kant ist diese Dialektik eine „Logik des Scheins“. Zur Wahrheit
gehört jedenfalls das Strittigsein wesentlich dazu.
Die Welt, die wir kennen, kann man in zwei grundverschiedene Klassen von
Gegenständen einteilen: In Seiendes (Dinge oder Sachverhalte) und in Perso-
nen. Entsprechend gibt es zwei grundverschiedene Arten, die Welt ans Licht zu
bringen. Die erste, gegenstands- bzw. wirklichkeitsbezogene Art ist gemäß dem
griechischen Wort für das Seiende on die „onto-logische“ Unverborgenheit. Ihr
Sinn besteht in der Erscheinung von Wirklichkeit. Die dafür zuständigen Wis-
senschaften bringen allerdings, wie Jaspers betont, immer nur kleine Ausschnitte
zur Erscheinung: „Die Wahrheit des objektiv zwingenden Wissens in den Wissen-
schaften ... zersplittert sich in viele Welten, betrifft... nie das Ganze des Daseins“
(fU/7r/7ek41991,387).
Nun kann es auf beiden Seiten, beim Bekanntwerden und bei der Wirklich-
keit selbst, unterschiedliche Ränge geben. Infolgedessen zeichnet sich die ontolo-
gische Wahrheit durch einen doppelten Komparativ aus. Auf der kognitiven Seite
kann das Seiende in einem stärkeren oder schwächeren Maß erschlossen sein. Zu-
sätzlich ist das, was erschlossen wird, der Gegenstand, ein mehr oder weniger Sei-
endes. Letztlich, in ihrer Fülle, besteht die Wahrheit im einschränkungslos vollen,
im rundum gelungenen Zur-Erscheinung-Bringen vom wahrhaft Seienden, mit
Aristoteles vom ontös on. Worin dieses liegt, ist erneut umstritten: Ist es die erste
Substanz oder ist es die Gottheit? Jaspers spricht vom Absoluten. Insofern dieses
dem „Dasein Halt und Trost und Geborgenheit, Maßstab und Führung bedeuten“
soll, ist es freilich laut Jaspers (Wahrheit, 387) dem objektiv zwingenden Wissen
versperrt.
Nicht Jaspers, aber viele Philosophen verdrängen die genannte zweite,
grundlegend andere Art des Zur-Erscheinung-Bringens. Ihretwegen gibt es einen
zweiten, nicht objektiven, sondern personalen Begriff der Wahrheit, das zum Er-
scheinungskommen einer Person: „Ihre Wahrheit beruht in Vollzügen ohne objek-
tiv zwingenden Charakter; sie ist für die Freiheit der Existenz zuständig“ (ebd.).
Diese existentielle oder personale Wahrheit kulminiert für Jaspers wie gesagt in der
Liebe, weshalb er sie im Abschnitt „Vollendung des Wahrseins“ erörtet.
Während jedenfalls das Erkennen Allgemeingültigkeit beansprucht, ist die
Wahrheit von Jaspers’ fünfter, insofern deutlich höheren Stufe, die der Existenz,
an die jeweilige Person und Situation in ihren Einmaligkeiten gebunden. Ein be-
sonderes Gewicht erhält hier der Gedanke von Grenzsituationen. In ihnen wird
eine vordergründige Geborgenheit im bloßen Dasein aufgebrochen, der Mensch
auf sein unvertretbares Selbst zurückgeworfen, was es ihm erleichtert, sogar ge-
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Allerdings ist es oft fraglich, ob tatsächlich etwas ins Licht gelangt oder man
eher einer Täuschung, einer Illusion erliegt. Entsprechende Theorien der Illusion
gibt es in der Philosophie seit Parmenides und Platon, in der Neuzeit etwa seit
Francis Bacon und besonders radikal in Kants Dialektik aus der Kritik der reinen
Vernunft, denn für Kant ist diese Dialektik eine „Logik des Scheins“. Zur Wahrheit
gehört jedenfalls das Strittigsein wesentlich dazu.
Die Welt, die wir kennen, kann man in zwei grundverschiedene Klassen von
Gegenständen einteilen: In Seiendes (Dinge oder Sachverhalte) und in Perso-
nen. Entsprechend gibt es zwei grundverschiedene Arten, die Welt ans Licht zu
bringen. Die erste, gegenstands- bzw. wirklichkeitsbezogene Art ist gemäß dem
griechischen Wort für das Seiende on die „onto-logische“ Unverborgenheit. Ihr
Sinn besteht in der Erscheinung von Wirklichkeit. Die dafür zuständigen Wis-
senschaften bringen allerdings, wie Jaspers betont, immer nur kleine Ausschnitte
zur Erscheinung: „Die Wahrheit des objektiv zwingenden Wissens in den Wissen-
schaften ... zersplittert sich in viele Welten, betrifft... nie das Ganze des Daseins“
(fU/7r/7ek41991,387).
Nun kann es auf beiden Seiten, beim Bekanntwerden und bei der Wirklich-
keit selbst, unterschiedliche Ränge geben. Infolgedessen zeichnet sich die ontolo-
gische Wahrheit durch einen doppelten Komparativ aus. Auf der kognitiven Seite
kann das Seiende in einem stärkeren oder schwächeren Maß erschlossen sein. Zu-
sätzlich ist das, was erschlossen wird, der Gegenstand, ein mehr oder weniger Sei-
endes. Letztlich, in ihrer Fülle, besteht die Wahrheit im einschränkungslos vollen,
im rundum gelungenen Zur-Erscheinung-Bringen vom wahrhaft Seienden, mit
Aristoteles vom ontös on. Worin dieses liegt, ist erneut umstritten: Ist es die erste
Substanz oder ist es die Gottheit? Jaspers spricht vom Absoluten. Insofern dieses
dem „Dasein Halt und Trost und Geborgenheit, Maßstab und Führung bedeuten“
soll, ist es freilich laut Jaspers (Wahrheit, 387) dem objektiv zwingenden Wissen
versperrt.
Nicht Jaspers, aber viele Philosophen verdrängen die genannte zweite,
grundlegend andere Art des Zur-Erscheinung-Bringens. Ihretwegen gibt es einen
zweiten, nicht objektiven, sondern personalen Begriff der Wahrheit, das zum Er-
scheinungskommen einer Person: „Ihre Wahrheit beruht in Vollzügen ohne objek-
tiv zwingenden Charakter; sie ist für die Freiheit der Existenz zuständig“ (ebd.).
Diese existentielle oder personale Wahrheit kulminiert für Jaspers wie gesagt in der
Liebe, weshalb er sie im Abschnitt „Vollendung des Wahrseins“ erörtet.
Während jedenfalls das Erkennen Allgemeingültigkeit beansprucht, ist die
Wahrheit von Jaspers’ fünfter, insofern deutlich höheren Stufe, die der Existenz,
an die jeweilige Person und Situation in ihren Einmaligkeiten gebunden. Ein be-
sonderes Gewicht erhält hier der Gedanke von Grenzsituationen. In ihnen wird
eine vordergründige Geborgenheit im bloßen Dasein aufgebrochen, der Mensch
auf sein unvertretbares Selbst zurückgeworfen, was es ihm erleichtert, sogar ge-
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