I. Jahresfeier am 18. Mai 2019
Infolgedessen besteht zwischen den beiden Ansprüchen, Argumentation und
Übereinstimmung, eine Konkurrenz: In dem Maße, wie die Übereinstimmung
als solche zählt, wird die Forderung nach Argumentation zurückgedrängt. Umge-
kehrt lässt das Abweisen jedweder historischer Zufälligkeiten für genuine Kom-
munikations- und Einigungsprozesse keinen Raum. Habermas will jedoch beides
vermitteln. Ein vernünftiger Konsens soll weder allein aus rein logischen Gründen
(bloßer Konsistenz) noch durch ein Außen, die Evidenz von Erfahrungen, erklärt
werden. Die Erklärung erfolgt vielmehr aus formalen, gleichwohl nicht formallo-
gischen Eigenschaften des Diskurses.
Von dessen näheren Elementen sei lediglich die ideale Sprechsituation her-
ausgegriffen. Ihr zufolge herrscht unter allen Sprechern eine strenge Chancen-
symmetrie. Offensichtlich ist so etwas weder jemals vollständig zu erreichen
noch jemals eindeutig zu identifizieren. Dieser Einwand, kann man entgegnen,
verkennt in Habermas’ idealer Sprechsituation die Idealität. Selbst wenn man da-
her „kontrafaktisch“, wie es gern heißt, unterstellt, die ideale Sprechsituation sei
vollständig realisierbar und eindeutig identifizierbar, so drängen sich immer noch
zwei Einwände auf
Nach dem ersten Einwand fehlt eine Legitimation der Idealitätsbedingungen.
Mehr noch: Mit der idealen Sprechsituation werden Fundamentalnormen schon als
selbstverständlich vorausgesetzt, obwohl der Diskurs, in diesem Fall der praktische
Diskurs, als jene Instanz behauptet wird, die die Normen allererst rechtfertigen
soll. Die vorausgesetzten Verpflichtungen, etwa das Leben der Diskursteilnehmer
zu schützen und jeden gleichberechtigt zu Wort kommen zu lassen, bilden, weil im
Diskurs immer schon vorausgesetzt, keinen möglichen Gegenstand. Hier zeigt sich
eine Aporie: In Habermas’ Methode der Legitimation gehen Elemente ein, die doch
erst ausgewiesen werden sollen. Diese Elemente bestehen, wie ich vor etlichen Jah-
ren eingewandt habe, in normativen Voraussetzungen des Diskurses, die insofern
den Rang von Präjudizien haben (vgl. Höffe 31995, Kap. 13).
Nach einem zweiten Einwand schafft die ideale Sprechsituation nur so et-
was wie die sozialen oder politischen Rahmenbedingungen dafür, dass überhaupt
argumentiert und eine zwangslose Zustimmung intendiert wird. Sie schließt als
Bestimmungsgründe bestenfalls Überredung, Täuschung und Manipulation aus.
Das Ausräumen dieser Kommunikationsverzerrungen garantiert aber noch nicht
das Gelingen des Konsenses. Über den intersubjektiven Bedingungen darf man
nämlich die subjektiven nicht vergessen: eine intellektuelle Kompetenz der Dis-
kursteilnehmer sowie ein Interesse (zweiter Ordnung), die Kompetenz auch ge-
gen das momentane Selbstinteresse einzusetzen. Man hat nämlich zu praktizieren,
was im Lateinischen sinceritas, im Englischen und Französischen sincerity bzw.
sincerite heißt: eine mit Ernsthaftigkeit gepaarte Aufrichtigkeit und Lauterkeit.
Bekanntlich ist dieses Erfordernis der Grund, warum Platon in seinen Dia-
logen, obwohl sie kommunikative Argumentationsdramen sind, keine Kommu-
38
Infolgedessen besteht zwischen den beiden Ansprüchen, Argumentation und
Übereinstimmung, eine Konkurrenz: In dem Maße, wie die Übereinstimmung
als solche zählt, wird die Forderung nach Argumentation zurückgedrängt. Umge-
kehrt lässt das Abweisen jedweder historischer Zufälligkeiten für genuine Kom-
munikations- und Einigungsprozesse keinen Raum. Habermas will jedoch beides
vermitteln. Ein vernünftiger Konsens soll weder allein aus rein logischen Gründen
(bloßer Konsistenz) noch durch ein Außen, die Evidenz von Erfahrungen, erklärt
werden. Die Erklärung erfolgt vielmehr aus formalen, gleichwohl nicht formallo-
gischen Eigenschaften des Diskurses.
Von dessen näheren Elementen sei lediglich die ideale Sprechsituation her-
ausgegriffen. Ihr zufolge herrscht unter allen Sprechern eine strenge Chancen-
symmetrie. Offensichtlich ist so etwas weder jemals vollständig zu erreichen
noch jemals eindeutig zu identifizieren. Dieser Einwand, kann man entgegnen,
verkennt in Habermas’ idealer Sprechsituation die Idealität. Selbst wenn man da-
her „kontrafaktisch“, wie es gern heißt, unterstellt, die ideale Sprechsituation sei
vollständig realisierbar und eindeutig identifizierbar, so drängen sich immer noch
zwei Einwände auf
Nach dem ersten Einwand fehlt eine Legitimation der Idealitätsbedingungen.
Mehr noch: Mit der idealen Sprechsituation werden Fundamentalnormen schon als
selbstverständlich vorausgesetzt, obwohl der Diskurs, in diesem Fall der praktische
Diskurs, als jene Instanz behauptet wird, die die Normen allererst rechtfertigen
soll. Die vorausgesetzten Verpflichtungen, etwa das Leben der Diskursteilnehmer
zu schützen und jeden gleichberechtigt zu Wort kommen zu lassen, bilden, weil im
Diskurs immer schon vorausgesetzt, keinen möglichen Gegenstand. Hier zeigt sich
eine Aporie: In Habermas’ Methode der Legitimation gehen Elemente ein, die doch
erst ausgewiesen werden sollen. Diese Elemente bestehen, wie ich vor etlichen Jah-
ren eingewandt habe, in normativen Voraussetzungen des Diskurses, die insofern
den Rang von Präjudizien haben (vgl. Höffe 31995, Kap. 13).
Nach einem zweiten Einwand schafft die ideale Sprechsituation nur so et-
was wie die sozialen oder politischen Rahmenbedingungen dafür, dass überhaupt
argumentiert und eine zwangslose Zustimmung intendiert wird. Sie schließt als
Bestimmungsgründe bestenfalls Überredung, Täuschung und Manipulation aus.
Das Ausräumen dieser Kommunikationsverzerrungen garantiert aber noch nicht
das Gelingen des Konsenses. Über den intersubjektiven Bedingungen darf man
nämlich die subjektiven nicht vergessen: eine intellektuelle Kompetenz der Dis-
kursteilnehmer sowie ein Interesse (zweiter Ordnung), die Kompetenz auch ge-
gen das momentane Selbstinteresse einzusetzen. Man hat nämlich zu praktizieren,
was im Lateinischen sinceritas, im Englischen und Französischen sincerity bzw.
sincerite heißt: eine mit Ernsthaftigkeit gepaarte Aufrichtigkeit und Lauterkeit.
Bekanntlich ist dieses Erfordernis der Grund, warum Platon in seinen Dia-
logen, obwohl sie kommunikative Argumentationsdramen sind, keine Kommu-
38