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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2019 — 2020

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A. Das akademische Jahr 2019
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II. Wissenschaftliche Vorträge
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Schahadat, Schamma: Das russische Imperium als familiärer Raum: die Emotionalisierung der russischen Kultur um 1800
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https://doi.org/10.11588/diglit.55176#0050
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II. Wissenschaftliche Vorträge

zunächst in der Rezeption der englischen Sensualisten, vor allem aber auch durch
die Lektüre westeuropäischer Romane und Reisebeschreibungen.
Wie, so lautet meine zentrale Frage, hat sich der Umbruch im emotionalen
Repertoire in Russland im 18. und frühen 19. Jahrhundert auf die verschiedenen
Diskurse ausgewirkt? Welche Rolle spielte der Import der Gefühle für die Idee
des Imperiums, für die Zarenfamilie, in der Literatur und für die Dichter? In An-
lehnung an Richard Wortman, der sich mit den russischen „Szenarien der Macht“
befasst hat2 *, gehe ich der These nach, dass das imperiale Familienmodell in die
kleine Familie eingreift und dass die russischen Zaren - speziell Nikolaj I. - nicht
nur als pater patriae, sondern auch als pater familiae agieren. Das lässt sich an zwei
Fallbeispielen zeigen:
Erstens an der Beziehung zwischen dem Zaren und den Dichtern: Der Zar
band die Dichter emotional in seine imperiale Familie (Vasilij Zukovskij) oder sein
imperiales Projekt (Aleksandr Puskin) ein oder aber er versuchte, sie dorthin zu-
rück zu holen (Petr Caadaev).
Zweitens griff der Zar in ,defekte4 Familien ein, in denen das eigentliche Fa-
milienoberhaupt fehlte, wie im Falle der Dekabristenfamilien. Allerdings gelang
ihm das nur bedingt, denn viele Dekabristenfrauen widersetzten sich dem Zaren
und ließen sich nicht in die ,große Familie4 einbinden; sie folgten ihren Männern
nach Sibirien und bildeten eine neue, alternative Familie als Gemeinschaft von
Frauen.
Mit den Dichtern, mit Caadaev und den Dekabristenfamilien ist das Thema
nur angerissen und man könnte weitere Aspekte in den Blick nehmen: So ließe
sich das Eingreifen des Zaren als „Vater (oder Mutter) des Vaterlandes“ in den Be-
reich der Erziehung untersuchen, wie in das Kadettenkorps unter Katharina II.
oder in die Universitäten unter Nikolaj I. - beide Institutionen hatten die Aufgabe,
die Jungen für den Staatsdienst zu disziplinieren. Anschließen ließe sich auch die
Frage nach alternativen Familienmodellen, die sich jenseits des Imperialen entwi-
ckelt haben - in Form von Salons, intellektuellen Zirkeln und Gcheimbünden, die
zum Beispiel Alexander Herzen in seinen Memoiren Byloe i dumnoe (Gedachtes und
Erlebtes) von 1857 beschreibt, als das imperiale Familienmodell schon nicht mehr
wirksam war.

2 Richard Wortman, Scenarios of Power Myth and Ceremony in Russian Monarchy from Peter
the Great to the Abdication of Nicholas II. Princeton 2006.

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