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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2019 — 2020

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B. Die Mitglieder
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I. Antrittsreden
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Ewald Frie
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https://doi.org/10.11588/diglit.55176#0199
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Antrittsrede von Ewald Erie

Mutter heiratete jung, bekam viele Kinder und versuchte, jedes Einzelne so lange
in der Schule und auf guten Ausbildungswegen zu halten wie eben möglich. Nicht
alle Kinder waren sofort erfolgreich. Manche machten Umwege oder drehten
Ehrenrunden. Meine Mutter akzeptierte das, solange das Ziel nicht aufgegeben
wurde. Die Bundesrepublik Deutschland kam ihr zur Hilfe: Honnefer Modell
und BaFöG finanzierten ihre persönliche Bildungsrevolution. Die Schuldenlast
des Bundes und die Staatsausgaben für unsere Familie stiegen seit Mitte der 1960er
Jahre parallel. Aus der Sicht meiner Mutter war es eine sehr gute Nachricht, dass
bei meinen Elternsprechtagen ausschließlich Aufsässigkeit und Disziplinlosigkeit
zur Sprache kamen. Die ließen sich beim Aufeinandertreffen bäuerlicher Großfa-
milienkultur mit bürgerlichem Gymnasium kaum vermeiden, meine Mutter war
in dieser Hinsicht Kummer gewohnt.
Wir waren Hardcore-Katholiken. Meine nächstältere Schwester heißt Maria,
weil meine Mutter der Gottesmutter angeboten hatte, ihr nächstes Kind nach ihr
zu benennen, wenn ihr soeben erst auskuriertes Knie die Schwangerschaft unbe-
schadet überstünde und sie ihren Pflichten als Bäuerin weiter nachkommen kön-
ne. Am Heiligen Abend saßen wir ums Herdfeuer und sangen „Oh komm, oh
komm Emmanuel“ und „Oh Heiland reiß die Himmel auf“, begleitet von einem
improvisierten Geschwisterorchester aus Akkordeon, Harmonika, Gitarre und
Blockflöte. Dann wurden endlose Litaneien gebetet. Ein beliebtes Mittel, ihnen
zu entkommen, war die Beteiligung an der weihnachtlichen Haussegnung. Mein
Vater führte die Gruppe mit einer Kerze an, gefolgt von Kindern mit Buchsbaum-
zweig, Weihwasser, Weihrauch und Kreuz. Wir liefen im Licht der Kerze durch
stockfmstre Gebäude, zeichneten ein Lichtkreuz aufjede einzelne Tür und bekräf-
tigten die Wirkung mit Weihrauch und Weihwasser. Jedenfalls glaubten wir das.
Wenn wir zurückkamen, waren die meisten Litaneien überstanden.
In den 1970er Jahren lockerten sich die Sitten. Mein ältester Bruder heiratete,
wir zogen in ein Altenteilerhaus und lebten etwas knapp von den Renten meines
Vaters. Mein Zweitältester Bruder heiratete eine protestantische Flüchtlingstochter.
Meine Mutter reformierte die innerfamiliäre Gebetsordnung auf nachkonziliarer
Grundlage. Mein kleiner Bruder brachte meinen Vater völlig aus dem Konzept,
als er ihn auf den immer gleichen Grammatikfehler im Schlussteil des „Engel des
Herrn“ hinwies, bei dem mein Vater als Vorbeter agierte.
Keine dieser Geschichten geht in der Entgegensetzung von Tradition und Mo-
derne auf Die Hektarhierarchie der Bauern wurde erst wichtig, als der Boden im
19. Jahrhundert zur Ware wurde. Meine Mutter war marienfromm und bildungs-
hungrig zugleich, und das war in den ländlichen 1930er bis 1950er Jahren kein
Widerspruch. Ihr selbstbewusster Eigensinn weist auf spätere weibliche Selbster-
mächtigungen voraus. Religiöse Rituale im familiären Rahmen sind aufgrund der
Quellenproblematik schwer zu greifen, sie werden - wie in unserem Fall - steten
Wandlungen unterworfen gewesen sein, die sich als Wiederkehr des Immerglei-

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