Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

DOI Kapitel:
B. Die Mitglieder
DOI Kapitel:
II. Nachrufe
DOI Artikel:
Primavesi, Oliver: Albrecht Dihle: (28. 3. 1923 − 29. 1. 2020)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0096
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
B. Die Mitglieder

hatten, aber während des Dritten Reichs wegen rassischer oder politischer Verfol-
gung nach Oxford emigriert waren. Genannt seien nur Eduard Fraenkel (früher
Freiburg), der mit bahnbrechenden Untersuchungen zur Plautinischen Komödie
und zum lateinischen Sprechvers hervorgetreten war, und später klassische Werke
zu Aischylos und Horaz schuf, Paul Maas (früher Königsberg i. Pr.), der große
Textkritiker, Metriker und Byzantinist, Rudolf Pfeiffer (früher München), der
Editor der durch Papyrusfunde stark vermehrten Gedichte des Kallimachos, Felix
Jacoby (früher Kiel), der Sammler und Erklärer der griechischen Historikerfrag-
mente, und Fritz Schulz (früher Berlin), der Historiker der antiken römischen
Rechtswissenschaft.
Dihle gewann in Oxford aber nicht nur einen überwältigenden persönlichen
Eindruck von dem Rang der durch das NS-Regime größtenteils vertriebenen Spit-
zengruppe der vor 1933 in Deutschland arbeitenden Altertumsforscher, sondern
auch die Einsicht, dass die Stellung der Classics im traditionellen Universitätssys-
tem von Oxford und Cambridge sich vom klassisch-philologischen Universitäts-
unterricht in Deutschland in einer bedenkenswerten Hinsicht unterschied. Das
traditionelle Bachelor-Studium in Oxford und Cambridge verstand sich jedenfalls
damals noch als Abschluss einer education, nicht als wissenschaftliche Grundlegung
einer fachspezifischen Berufsausbildung. Im Fach Classics bedeutete das zum ei-
nen: eine geradezu sportliche Gewandtheit im nicht nur passiven, d. h. lesenden,
sondern auch aktiven, d. h. schreibenden Gebrauch der beiden Sprachen, und
letzteres nicht nur in Prosa, sondern auch in den wichtigsten Sprechversmaßen,
und es bedeutete zum andern: intime, bis zur auswendigen Beherrschung weiter
Partien gehende Vertrautheit mit einem überschaubaren, dem civilized gentleman
vertrauten Kanon klassischer Autoren, (dessen Kenntnis bei den Absolventen der
besten public schools, wie Winchester College, freilich bereits bei Studienbeginn weit
entwickelt war): im Griechischen etwa Homer, die drei Tragiker und Aristophanes,
die Historiker Herodot und Thukydides, der Redner Demosthenes und ausge-
wählte Werke von Platon und Aristoteles. Die kannte man dann fürs Leben, konnte
sie jederzeit durch erneute Lektüre im Original auffrischen und bei sich bieten-
der gesellschaftlicher Gelegenheit, etwa bei einer Unterhausrede, daraus zitieren
- und damit auf Verständnis treffen. Anderes hingegen, wie selbst Pindar und erst
recht die neugefundenen Papyrusfragmente anderer frühgriechischer Lyrik, oder
die hellenistische Dichtung, oder die griechische Literatur der Kaiserzeit, oder die
platonisierende Philosophie und die christliche Theologie der griechischen Spät-
antike, lernte man in diesem Studiengang in der Regel nicht näher kennen.
Dihle nahm damals die Eigenart dieses englischen Modells deshalb so ge-
nau wahr, weil es sich nicht einfach als Kuriosum eines gleichsam vorrevolutio-
nären Bildungssystems für eine handverlesene Elite abtun ließ, sondern vielmehr
auffällig frei von einem bestimmten Problem des deutschen Modells war, das in
Deutschland die primäre gesellschaftliche Funktion der Klassischen Philologie,

96
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften