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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2022
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Reinkowski, Maurus: Die Barbareskenstaaten: eine historische Annäherung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0083
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Maurus Reinkowski

der endgültig errungenen Kontrolle über Tunis 1574 konnten die Osmanen die
gesamte nordafrikanische Küste bis Oran kontrollieren. Dass die Osmanen ihre
Expansionsbewegung Richtung westliches Mittelmeer um 1580 abbrachen, war
vermutlich ihrer Kalkulation geschuldet, dass die Kosten für eine solche imperiale
Expansion höher liegen würden als die in östlich von ihnen liegende Regionen.
Für Spanien und Portugal wiederum war eine Hinwendung zum Atlantik weniger
konfliktträchtig und gewinnbringender. Damit entstand ein Freiraum, in dem sich
die Barbareskenstaaten für mehrere Jahrhunderte einrichteten.
Das Korsarentum und die Sklavenwirtschaft der maghrebinischen Regent-
schaften, die die europäische Öffentlichkeit lange fesselten, wurden ab dem 19.
Jahrhundert durch die alles verschlingende Frage des europäischen Kolonialismus
in den Hintergrund gerückt. Die Geschichte der Barbareskenstaaten schien nur
noch ein Vorspiel zur Phase des Kolonialismus zu sein, die 1830 mit der Landung
französischer Truppeneinheiten an der Küste Algeriens begann und mit der Errin-
gung der nationalen Souveränität Algeriens 1962 endete. Für die Algerier jedenfalls
begründete erst die Erfahrung des Kolonialismus und des Kampfes gegen ihn den
Staat und die Nation Algerien.
Die maghrebinischen Regentschaften erkannten den grundsätzlichen Herr-
schaftsanspruch Istanbuls an: Die Münzen führten das osmanische Siegel, im Frei-
tagsgebet wurde der Sultan als Herrscher erwähnt. Dennoch sitzt der Maghreb
am Katzentisch der osmanischen Geschichte. Der Grundeindruck, der sich aus
der Lektüre von Standardwerken zur osmanischen Geschichte ergibt, ist immer
derselbe: Die Verfasserin oder der Verfasser weist, sobald sie oder er in das 16.
Jahrhundert vorgestoßen ist, mit einem gewissen „Stolz“ daraufhin, dass auch die
maghrebinischen Küsten Teil des Osmanischen Reiches waren, dann aber ver-
schwinden die Regentschaften unmerklich aus der imperialen Gesamterzählung.
Wenn nun manche zu einer „maghrebinischen Wende“ in der osmanistischen For-
schung aufrufen, so ist dies legitim, aber es kann nicht bedeuten, dass wir alle zu
Spezialistinnen und Spezialisten des Maghreb mutieren müssen, um die klaffen-
den Lücken in unserer Kenntnis des prä-kolonialen Maghreb zu beheben.
Eine umfassende Geschichte des Osmanischen Reiches zu denken und zu
schreiben ist eine gewaltige Aufgabe. Aus verständlichen Gründen zerfällt die
Forschung in regionale Spezialisierungen wie Südosteuropa, Anatolien oder die
arabischsprachigen Regionen. Gesamtdarstellungen wiederum stehen immer in
der Gefahr, eine „Reichsgeschichte“ aus der Perspektive des Herrschaftszentrums
zu sein. „Marginale“ Regionen wie etwa der Kaukasus oder Nordafrika kommen
dabei zu kurz, obwohl sie eigentlich mit zu berücksichtigen wären. Es ist daher
eine historiographische Herausforderung, die nur lose an das Osmanische Reich
angebundenen Regentschaften Algier, Tripolis und Tunis für das Gesamtverständ-
nis des imperialen Charakters des Osmanischen Reiches nutzbar zu machen. Al-
lerdings lässt sich die Einschätzung, dass die maghrebinischen Gesandtschaften

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