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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2023 — 2023(2024)

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Jörn Leonhard

Amerikanischen Bürgerkrieges die Probleme der Friedenssuche in der Neuzeit
bündelte: in der entgrenzten Gewalt, die sich immer mehr auch gegen die Zivilbe-
völkerung gewandt hatte, wie auch im erstmals formulierten Konzept der „uncon-
ditional surrender", also der bedingungslosen Kapitulation der Unterlegenen.
Was das Ende eines langen Krieges bedeutete, den man sich als kurzen Krieg
vorgestellt hatte, erwies sich im Ersten Weltkrieg. Deutsche und Franzosen schlos-
sen am 11. November 1918, dem Tag des Waffenstillstandes, oder am 28. Juni 1919
bei der Unterzeichnung des Versailler Vertrages, jedenfalls keinen Frieden mitein-
ander. Vielmehr provozierten die Ergebnisse des mit Eiwartungen überforderten
Friedens von 1919 neue Verletzungen: durch territoriale Bestimmungen, Repara-
tionen und die Betonung einer „Kriegsschuld", die zum Ausgangspunkt deutscher
Revisionsobsessionen wurde. Insofern sagt der Abschluss eines Friedensvertrags
nichts aus über langfristige kollektive Einstellungen. Auf Versailles folgte eine
Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Auch die in den Locarno-Verträgen
von 1925 erreichte Garantie der Grenzen in Westeuropa änderte nichts daran, dass
der Krieg in den Köpfen vieler Menschen präsent blieb. Als deutsche Truppen im
Juni 1940 Frankreich besiegten, schien es vielen Deutschen, als ob erst jetzt der
Erste Weltkrieg mit einem deutschen Sieg ende.
Der Blick auf die vielen Enden historischer Konflikte vermittelt vor allem
ernüchternde Botschaften. Es gibt Kriege, die wie im 17. Jahrhundert nach langen
Gewaltphasen langsam ausbrennen. Historisch setzte erfolgreiche Diplomatie in
vielen Fällen eine Einsicht aller Akteure in die eigene Erschöpfung und die daraus
abgeleitete Alternativlosigkeit einer politischen Sondierung voraus. Doch bevor es
so weit kommen konnte, verlängerte der Krieg sich häufig gleichsam selbst. Denn
in vielen Kriegsgesellschaften wirkte angesichts der vielen Opfer jede scheinbar
vorzeitige Konzession wie Defätismus und Verrat. So wurden gerade die Endpha-
sen vieler Kriege im 20. Jahrhundert zum Anlass, um die Gewalt noch einmal zu
intensivieren. Das galt nicht nur für die Endphase des Ersten Weltkrieges ab 1917,
sondern auch für den Zweiten Weltkrieg ab 1943/44 in Europa und im Pazifik, und
es reichte bis zum bislang einzigen Einsatz von Atomwaffen in einem militärischen
Konflikt. Auch auf dem langen Weg der USA aus dem Vietnamkrieg spielte die
Ausweitung der Gewalt gerade nach der Einsicht in das sich abzeichnende Ende
des Konflikts eine wesentliche Rolle, um für Verhandlungen eine möglichst gute
Ausgangsposition zu erlangen und dem Gegner die eigene Handlungsfreiheit vor-
zuführen.
Schließlich berührt die Frage, wie Kriege enden und wie Frieden entsteht,
auch ein Grundproblem moderner Politik: nämlich die Kluft zwischen den unter
den Bedingungen moderner Medien provozierten Erwartungen und dem in der
Realität Erreichbaren, aus der neue Legitimationskrisen erwachsen können. Diese
Spannung hat sich historisch entwickelt, und sie wird uns absehbar weiter beglei-
ten.

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