III. Veranstaltungen
Festvortrag von Prof. Dr. Dres.h. c. Josef Isensee
„Die hermeneutische Einheit der Wortwissenschaften"*
I. Apologie der Buchstaben
Sokrates verschmäht die geschriebene Rede und verwirft den Gebrauch von Buch-
staben. Der Philosoph, der keine schriftliche Zeile hinterlassen hat, setzt allein
auf das Gespräch, in dem ein Wort das andere ergibt, in Frage und Antwort, Zu-
spruch und Widerspruch. Die Fixierung der Rede durch Buchstaben gilt ihm als
Täuschungsmanöver. Das schriftliche Gebilde tue so, als enthalte es Wissen und
Wahrheit; doch praktisch erzeuge es bloß Dünkel. Der wahllos zwischen Verstän-
digen und Unverständigen umherschweifende Text täusche vor, er habe etwas
mitzuteilen. Doch wenn man ihn befrage, so sage er immer nur ein und dasselbe.
Er sei nicht in der Lage, Einwände abzuwehren und Missverständnisse aufzulösen.
Die Verschriftlichung der Rede sei überdies schädlich, weil sie dazu führe, dass das
lebendige Erinnerungsvermögen verkümmere.
Gleichwohl haben die von Sokrates verfemten Buchstaben es ermöglicht, dass
seine Worte uns nach zwei Jahrtausenden noch erreichen, und zwar so, wie sein
Schüler Platon, der sich von der Buchstabenphobie des Lehrers nicht hat anste-
cken lassen, sie im „Phaidros" aufgezeichnet hat.1 Die in Buchstaben aufgehobe-
nen Worte ei~weisen sich uns gegenüber deshalb nicht als erstarrt, unzugänglich
und hilflos, weil die Menschheit eine Kunst entwickelt hat, die Defekte zu kom-
pensieren. Diese Kunst bringt das stumme Buchstabengebilde, den Text also, zum
Reden. Sie löst die Starre der Wortkonsei~ve zu Resilienz, und sie aktualisiert das
Sinnpotential, das in ihr gespeichert ist. Der Text erwacht zum Leben, so dass wir
an ihn Fragen stellen und entsprechende Antworten erwarten dürfen. Diese Kunst
ist die Hermeneutik. Hermeneutik bedeutet die Fähigkeit, fremdes Sinngut zu be-
greifen und anderen in Worten zu vermitteln.
II. Der hermeneutische Dreischritt
Hermeneutik vollzieht sich als Prozess in drei Schritten: Verstehen - Auslegen -
Anwenden.
* Der vorliegende Festvortrag greift zurück auf meine kurz zuvor erschienene, Paul Kirchhof
gewidmete Monographie „Hermeneutik. Studien für den Umgang der Jurisprudenz mit
Normtexten im Vergleich zur biblischen Theologie und zur Literaturwissenschaft" (Frankfurt
am Main 2023). Hier finden sich weitere Belege.
1 Platon, Phaidros, 274 c-276 a.
138
Festvortrag von Prof. Dr. Dres.h. c. Josef Isensee
„Die hermeneutische Einheit der Wortwissenschaften"*
I. Apologie der Buchstaben
Sokrates verschmäht die geschriebene Rede und verwirft den Gebrauch von Buch-
staben. Der Philosoph, der keine schriftliche Zeile hinterlassen hat, setzt allein
auf das Gespräch, in dem ein Wort das andere ergibt, in Frage und Antwort, Zu-
spruch und Widerspruch. Die Fixierung der Rede durch Buchstaben gilt ihm als
Täuschungsmanöver. Das schriftliche Gebilde tue so, als enthalte es Wissen und
Wahrheit; doch praktisch erzeuge es bloß Dünkel. Der wahllos zwischen Verstän-
digen und Unverständigen umherschweifende Text täusche vor, er habe etwas
mitzuteilen. Doch wenn man ihn befrage, so sage er immer nur ein und dasselbe.
Er sei nicht in der Lage, Einwände abzuwehren und Missverständnisse aufzulösen.
Die Verschriftlichung der Rede sei überdies schädlich, weil sie dazu führe, dass das
lebendige Erinnerungsvermögen verkümmere.
Gleichwohl haben die von Sokrates verfemten Buchstaben es ermöglicht, dass
seine Worte uns nach zwei Jahrtausenden noch erreichen, und zwar so, wie sein
Schüler Platon, der sich von der Buchstabenphobie des Lehrers nicht hat anste-
cken lassen, sie im „Phaidros" aufgezeichnet hat.1 Die in Buchstaben aufgehobe-
nen Worte ei~weisen sich uns gegenüber deshalb nicht als erstarrt, unzugänglich
und hilflos, weil die Menschheit eine Kunst entwickelt hat, die Defekte zu kom-
pensieren. Diese Kunst bringt das stumme Buchstabengebilde, den Text also, zum
Reden. Sie löst die Starre der Wortkonsei~ve zu Resilienz, und sie aktualisiert das
Sinnpotential, das in ihr gespeichert ist. Der Text erwacht zum Leben, so dass wir
an ihn Fragen stellen und entsprechende Antworten erwarten dürfen. Diese Kunst
ist die Hermeneutik. Hermeneutik bedeutet die Fähigkeit, fremdes Sinngut zu be-
greifen und anderen in Worten zu vermitteln.
II. Der hermeneutische Dreischritt
Hermeneutik vollzieht sich als Prozess in drei Schritten: Verstehen - Auslegen -
Anwenden.
* Der vorliegende Festvortrag greift zurück auf meine kurz zuvor erschienene, Paul Kirchhof
gewidmete Monographie „Hermeneutik. Studien für den Umgang der Jurisprudenz mit
Normtexten im Vergleich zur biblischen Theologie und zur Literaturwissenschaft" (Frankfurt
am Main 2023). Hier finden sich weitere Belege.
1 Platon, Phaidros, 274 c-276 a.
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