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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2023 — 2023(2024)

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III. Veranstaltungen

schweigend herbeiführt. Dieser kann auf formellen und informellen Wegen den
Substanzschwund, die Substanzzufuhr wie den Substanzaustausch der Verfassung
bewirken. Er kann aber auch substantielle Kontinuität sichern, indem er das ur-
sprüngliche Verständnis sinngemäß fortschreibt und der Gegenwart vermittelt.
Das Dilemma des änderungsresistenten, alten Textes findet ein Gleichnis im
griechischen Mythos des schönen trojanischen Prinzen Tithonös, in den sich die
Göttin der Morgenröte Eos verliebte. Für ihn erbat sie beim Göttei~vater Zeus die
Gabe der Unsterblichkeit und erhielt sie. Doch die Göttin hatte versäumt, ihm
auch die ewige Jugend zu erwirken. So kam denn nach Jahren des Liebesglücks
die Zeit (so der Homerische Hymnus auf Aphrodite) „da begann ihm die Fülle
der Haare grau zu werden am edlen Kinn und am herrlichen Haupte", und das
hässliche Alter zog ein, das ihn völlig erdrückte. Jetzt, so der Hymnus, „ließ sie ihn
sitzen im Ehegemach, versperrte die glänzenden Türen; endlos tönte sein Stimm-
chen, denn Kraft war nicht mehr vorhanden". Nach anderer antiker Überlieferung
schrumpfte der einstmals schöne Prinz Thitonös, der nicht sterben konnte, zu ei-
nem Insekt und verwandelte sich in eine Zikade, deren dünnes, hohes Stimmchen
wir noch heute zirpen hören, wenn es Sommer ist. Ist das die Zukunft der Verfas-
sung? Sie entgeht dem Zikaden-Schicksal nur durch Interpretation. Nur diese ver-
mag, ihr ewige Jugend zu sichern, indem sie das Gedächtnis des Volkes wachhält,
den alten Text dem Kontext der Gegenwart anpasst, die unberührbaren, irrever-
siblen Grundsätze jeder Generation neu vermittelt und in die jüngeren Sprach-
und Denkmuster übersetzt, das normative Bedeutungspotential aktualisiert, die
gewandelten und weiterhin wandelbaren Bedürfnisse und Hoffnungen aufnimmt
und so an der kontinuierlichen Wirksamkeit der Norm arbeitet. Veijüngung durch
Interpretation: das gilt für alle alten Texte, die profanen wie die sakralen, die auto-
ritativen wie die schönen.
2. Historisierende und aktualisierende Interpretation
Angesichts der zeitlichen Distanz steht der Interpret vor der Entscheidung, ob er
sich damit begnügen soll, den Text auf den Autor und seine Zeit zurückzuführen
und ihm jene Bedeutung zu erschließen, die ihm ursprünglich zugedacht war, ihn
also zu historisieren, oder aber ihn auf die Gegenwart zu beziehen, ihn also zu
aktualisieren. Beide Intentionen sind in sich schlüssig und legitim. Im ersten Fall
wird der Text der Gegenwart als historisches Dokument vermittelt, täuschend le-
bensecht, aber tot wie ein Tierpräparat im naturkundlichen Museum. Im zweiten
Fall wird der alte Text den Zeitgenossen des Interpreten aufbereitet, für ihren Ver-
stehenshorizont fortgeschrieben, in ihre Begrifflichkeit übersetzt, ihren Anwen-
dungsmöglichkeiten und -bedürfnissen angepasst. Der Interpret rekonstruiert den
Text so, wie wenn er von heute wäre. Gleichwohl wird die historisierende Sicht
durch die aktualisierende nicht abgelöst. Vielmehr wird sie nur degradiert vom

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