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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2023 — 2023(2024)

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III. Veranstaltungen

Menschenrechte verworfen haben, weil jede der Positionen Wurzeln in der üppi-
gen Tradition nachweisen kann, mit ihr eine „Hermeneutik der Kontinuität", mö-
gen die Kritiker hier auch eher eine „Hermeneutik der Tradition und des Bruchs"
für angebracht halten.41
4. Fremdheit der Moderne
Auch der zeitgenössische Text ist fremde Individualität, die der Auslegung bedarf.
Das versteht sich für den Juristen von selbst, zumal beim jungen Gesetz, das im
Zuge einer Steuerreform verwaltungsungewohnte Regelungen trifft oder ein neu-
artiges Substrat, etwa die sozialen Medien, die Gentechnik, die künstliche Intelli-
genz erstmals erfasst. Ein solches Gesetz ist oftmals auch dem Spezialisten unter den
Juristen kaum begreiflich. Bei einem neuen Gesetz warten die Behörden mit der
Anwendung aus Gründen der Vorsicht wie der Arbeitsökonomie erst einmal die Ver-
waltungsvorschriften ab, in denen das Ministerium als die Spitze der exekutivischen
Interpretationshierarchie die Normen auslegt, deren Entwurf es zuvor selbst ange-
fertigt hat, und so als der eigentliche Urheber, am parlamentarischen Beschlussorgan
vorbei, das Normverständnis der nachgeordneten Stellen steuert.
Die Halbwertzeit avantgardistischer Kunsterzeugnisse ist vielleicht noch kür-
zer als die der modernen Gesetze.42 Avantgarden rotieren. Autoren gehen darauf
aus, Konventionen zu sprengen und Erwartungen zu enttäuschen, um den Nim-
bus der Modernität zu erlangen. Die Zeitgenossen leben nun einmal in unter-
schiedlichen Wahrnehmungs- und Gedankenwelten.
Von jeher ist die deutsche Literatur reich an Autoren wie Jean Paul und Ar-
no Schmidt, die ihre Texte bewusst verrätseln, mit ihren zeitgenössischen Lesern
Versteck- und Fangspiele veranstalten und die professionellen Interpreten heraus-
fordern. Die gängige Vorstellung, dass zeitgenössische Texte die vermittelnde In-
terpretation nicht nötig haben, scheitert beinahe immer. Goethe spottet:
„Denn bei den alten, lieben Toten
Braucht man Erklärung, will man Noten;
Die neuen glaubt man blank zu verstehen;
Doch ohne Dolmetsch wird's auch nicht gehen".43

41 Papst Benedikt XVI., Ansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der römischen
Kurie am 22. Dezember 2005, in: Verlautbarungen des Heiligen Stuhls Nr. 172.

42 Zur Rotation der Avantgarden in der bildenden Kunst Hermann Lübbe, Historisierung und
Ästhetisierung, in: Festschrift für Robert Spaemann, 1987, S. 149 ff

43 Goethe, Sprichwörtlich (1810-1812), in: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, 51986, S. 622.

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