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Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt — Klöster als Innovationslabore, Band 1: Regensburg: Schnell + Steiner, 2014

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Breitenstein, Mirko: Die Verfügbarkeit der Transzendenz: Das Gewissen der Mönche als Heilsgarant
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https://doi.org/10.11588/diglit.31468#0051
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50 | Mirko Breitenstein
quod in simplicitate et sinceritate Dei […] conversati sumus, 2. Cor 1, 12). Dies von
sich selbst zu wissen aber hieß, das Buch des Lebens lesen zu können, hieß, sich
vor sich selbst über sich selbst Rechenschaft abzulegen. Jeder Mönch sollte daher
streng – gleichsam mit richterlicher Sorgfalt – jeden Gedanken, jede Tat, jedes Wort
so untersuchen, als wäre es eine göttliche Prüfung; er hatte den Maßstab Gottes an
sich selbst anzulegen. ⁶³ Die zu dieser Zeit entstehende Literatur zur moralischen
Vervollkommnung und religiösen Progression sollte dem Religiosen helfen, hierfür
einen Maßstab zu entwickeln.
Es musste folglich darum gehen, das Eigene soweit wie möglich mit dem Göttlichen
in Übereinstimmung zu bringen. Die Herausforderung bestand – in der Metaphorik
des Textes – nicht nur darin, das Buch des eigenen Gewissens zu lesen,
sondern ebenso auch Einblick in das Buch des Lebens zu erhalten. Gemeint war
in beiden Fällen, einen Blick auf und in sich selbst zu werfen, wobei jedoch eine
jeweils andere Perspektive gewählt werden sollte: die eigene und die Gottes. Im Idealfall
waren beide deckungsgleich, so wie im Idealfall ja auch beide Beobachtungsobjekte,
liber vitae und liber conscientiae, identisch sein sollten. Eine solche Form
der Selbstreflexion schien offenbar geeignet, die beiden Perspektiven von Fremdheit
und Nähe zu einer einzigen zu verbinden: Beobachtete sich der Mönch zugleich
mit größtmöglicher Distanz als auch mit intimster Kenntnis, erwuchs aus dieser
Beobachtung ein reflektiertes Bewusstsein. Sich selbst vor sich selbst zu beurteilen
hieß, sich zu erkennen.
Diese Bindung des individuellen Seelenheils an sich selbst und die eigene Lebensführung
bedurfte jedoch einer institutionellen Absicherung, um den Einzelnen
nicht grundsätzlich zu überfordern. Vor dem Hintergrund des allgemein unterstellten
menschlichen Ungenügens und um einer aus übermäßiger Reue erwachsenden
Verzweiflung vorzubeugen, sollte der Mönch das, was er in sich selbst las, nicht
allein für sich behalten. Bevor die geheime Ohrenbeichte durch das Vierte Laterankonzil
1215 zu einer allgemeinen Pflicht für alle Gläubigen erklärt wurde, ⁶⁴ war das
63 Iudiciali censura omnem cogitatum suum, actum et sermonem quam districte appendere debet religiosus
quisque qui de omni verbo, actu cogitatione, libram habet suspectam divini examinis. Petrus
Cellensis, De conscientia (wie Anm. 1), S. 214.
64 So bestimmt im Kanon 21 des Konzils; vgl. Die Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 2: Konzilien
des Mittelalters, hg. von Josef Wohlmuth, Paderborn 2000, S. 245. Vgl. zum Zusammenhang Martin
Ohst, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter (Beiträge
zur historischen Theologie 89), Tübingen 1995. Zu den Folgen und der Bedeutung grundlegend: Alois
Hahn, Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse. Selbstthematisierung
und Zivilisationsprozess, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34, 1982, S.
407– 434, sowie Peter von Moos, »Herzensgeheimnisse« (Occulta cordis). Selbstbewahrung und Selbstentblößung
im Mittelalter, in: Ders., Öffentliches und Privates, Gemeinsames und Eigenes. Gesammelte
Studien zum Mittelalter, Bd. 3, hg. von Gert Melville (Geschichte: Forschung und Wissenschaft 16),
Berlin 2007, S. 5 –28, v. a. S. 11–24. Zur Frage der Notwendigkeit einer priesterlichen Absolution vor dem
 
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