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Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt — Klöster als Innovationslabore, Band 1: Regensburg: Schnell + Steiner, 2014

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Steckel, Sita: Deuten, Ordnen und Aneignen: Mechanismen der Innovation in der Erstellung hochmittelalterlicher Wissenskompendien
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https://doi.org/10.11588/diglit.31468#0227
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226 | Sita Steckel
ßenteils autoritative Meinung, »Wort des Meisters«, das tradiert und weiterdiskutiert
wurde. ⁴⁸
Doch kennen wir mit der ihm zugeschriebenen Vorform der Glossa ordinaria
ein Wissenskompendium anderer Art, das sowohl einen neuen, spezialisierten
Nutzungskontext für traditionelle Wissensbestände wie eine neue materielle Gestalt
zeigt. Die später Glossa ordinaria genannte Glossierung der gesamten Bibel mit
den wichtigsten patristischen Autoritäten gilt als spezifisch »schulisches« Produkt
und gleichzeitig als eine der wichtigsten gelehrten Innovationen des Hochmittelalters,
die tatsächlich eine geradezu atemberaubende Verbreitung fand. ⁴⁹ Sie illustriert
jedoch auch den Zusammenhang klösterlicher und außerklösterlicher Milieus, da
Anselm und Radulf von Laon besonders deutlich auf vorhandene, im Ursprung
klösterliche Ressourcen zurückgriffen, um neuen Herausforderungen gerecht zu
werden. ⁵⁰
In der Forschung ist häufig davon die Rede, dass Anselm von Laon und seine
Mitarbeiter und Fortsetzer ein großes Werk der Sammlung und Systematisierung
durchführten: Sie begannen, die patristischen Erläuterungen zu allen Büchern der
Bibel zusammenzustellen und systematisch miteinander in Verbindung zu bringen.
Diese Arbeit erscheint – sicher nicht zu Unrecht – als wichtiger Aufbruch zu einem
neuartig systematischen Denken. Wo allerdings die Systematisierungsleistung und
der innovative Impuls der Arbeit an der Glossa ordinaria liegt, kann schnell missverstanden
werden. Sogar ein Experte für die Glossenhandschriften wie Christopher
de Hamel scheint beispielsweise zu suggerieren, dass es im früheren Mittelalter
nur eine Art Notizen von Gelehrten zur Bibel gab und dass dann erst Gelehrte
des 11. Jahrhunderts wie Lanfranc von Bec, der Lehrer Anselms von Canterbury,
»‚teaching copies‘ of biblical books crammed with marginal and interlinear notes« ⁵¹
besessen hätten. Die Arbeit Anselms stellt sich De Hamel vor als »extracting fragments
of patristic exegesis and arranging them as short notes between the lines of
biblical text and as longer notes down the margins.« ⁵²
Doch wie die erst in jüngster Zeit substantiell vorangeschrittene inhaltliche Erforschung
der Glossa ordinaria gezeigt hat, ist diese Idee nicht ganz richtig. Anselm
und seine Mitarbeiter begannen keineswegs ein großes Werk des Sammelns und
48 Vgl. Giraud, Per verba magistri (wie Anm. 4), S. 495 f.
49 Vgl. Christopher de Hamel, Glossed Books of the Bible and the Origins of the Paris Booktrade, Woodbridge/Dover
1984, S. xiiiff.; grundlegend zur Erforschung der Glossa ordinaria jetzt Lesley Janette
Smith, The Glossa Ordinaria: The Making of a Medieval Bible Commentary, Leiden/Boston 2009.
50 Als »Brücke zwischen monastischer Vergangenheit und scholastischer Zukunft« erscheint die Schule Anselms
schon bei Southern, Scholastic Humanism (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 43 ff., allerdings aus anderen
Gründen.
51 De Hamel, Glossed Books (wie Anm. 49), S. 1.
52 De Hamel, Glossed Books (wie Anm. 49), S. 1.
 
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