Metadaten

Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt — Klöster als Innovationslabore, Band 1: Regensburg: Schnell + Steiner, 2014

DOI Artikel:
Steckel, Sita: Deuten, Ordnen und Aneignen: Mechanismen der Innovation in der Erstellung hochmittelalterlicher Wissenskompendien
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31468#0230
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Deuten, Ordnen und Aneignen | 229
Verweis der Forschung auf die »Dialektik« als neues Arbeitsinstrument erklärt
aber letztlich wenig, denn neue Techniken betrafen verschiedene Ebenen gelehrter
Arbeit am Text. Begrifflich klärendes und logisch argumentierendes Vorgehen im
Abgleich der Autoritäten, die Anselm bekanntlich als diversa, non adversa ansah,
war schon mit den Ressourcen der Karolingerzeit möglich gewesen. Berengar von
Tours und Bernold von Konstanz hatten jeweils unabhängig voneinander Autoritätenhierarchien
formuliert, was sich im 12. Jahrhundert weiter fortsetzen sollte.
Obwohl Anselm selbst dazu keine eindeutigen schriftlichen Zeugnisse hinterließ,
wurden in der Schule von Laon die praktischen Probleme einer Hierarchisierung
von Autoritäten im Wesentlichen erkannt und durch bestimmte Strategien gelöst. ⁵⁹
Seit dem späten 11. Jahrhundert wurde zudem mit verschiedenen spezifischen Terminologien
experimentiert, da die sprachliche Gestalt der heiligen Schriften in den
Vordergrund trat. ⁶⁰ Man fragte etwa, wie man den Begriff persona in Anwendung
auf die Trinität einsetzen konnte. Diese Versuche bildeten jedoch keineswegs eine
neue, einheitliche Sprache theologischer Wissenschaft, sondern blieben zunächst
experimentell und lokal unterschiedlich. ⁶¹ Schon aus der Schule Anselms von Laon
heraus wurden allerdings wichtige Fortbildungen in diesen Methodenfragen erarbeitet.
Sein Schüler Gilbert von Poitiers († 1154), der zur Glossa ordinaria wichtige
Beiträge leistete und einen eigenen, intensiv systematisierenden Psalmenkommentar
verfasste, entwickelte etwa ein starkes Problembewusstsein in den angesprochenen
Fragen. ⁶² Er fokussierte im Laufe seiner weiteren Karriere vor allem das Problem
der sprachlichen Überlieferung göttlicher Wahrheit in der Bibel und der zu ihrer
Untersuchung nötigen, selbst wiederum der Wahrheit notwendigerweise nur angenäherten
Terminologien. Im Umgang mit den eigentlich für profane Texte entwickelten
hermeneutischen Techniken reflektierte er zudem die epistemologischen
59 Obwohl aus dem Umkreis Anselms von Laon im Gegensatz zu Berengar von Tours, Bernold von Konstanz
oder Peter Abaelard keine explizite Stellungnahme zu den Kriterien der Hierarchisierung von Autoritäten
überliefert ist, wurde die Methode in Laon durchaus angewendet, vgl. bes. Colish, Another
Look (wie Anm. 46), S. 12–13.
60 Vgl. Toivo J. Holopainen, Dialectic and Theology in the Eleventh Century (Studien und Texte zur
Geistesgeschichte des Mittelalters 54), Leiden/New York/Köln 1996; Colish, Peter Lombard (wie Anm.
27), Bd. 1, S. 91–96.
61 Vgl. als Beispiel etwa Constant J. Mews, St Anselm and Roscelin of Compiègne: Some New Texts and
Their Implications II: A Vocalist Essay on the Trinity and Intellectual Debate c. 1080 –1120, in: Reason
and Belief in the Age of Roscelin and Abelard, hg. von dems. (Variorum Collected Studies Series 730),
Aldershot/Burlington, Ve. 2002, S. 39 – 90.
62 Vgl. zu Gilbert von Poitiers mit Verweisen auf die weitere Literatur Steckel, Kulturen des Lehrens
(wie Anm. 11), S. 1098 –1124, sowie bes. Theresa Gross-Diaz, The Psalms Commentary of Gilbert of
Poitiers. From Lectio Divina to the Lecture Room (Brill’s Studies in Intellectual History 68), Leiden/
New York/Köln 1996; Lauge Olaf Nielsen, Theology and Philosophy in the Twelfth Century: A Study
of Gilbert Porreta’s Thinking and the Theological Expositions of the Doctrine of the Incarnation during
the Period 1130 –1180 (Acta Theologica Danica 15), Leiden 1982.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften