Deuten, Ordnen und Aneignen | 237
mittelalters. ⁸⁵ Lambert erlebte sozusagen vor seiner Tür die Eroberung Englands
1066 und den Aufstieg der Grafen von Flandern, interessierte sich aber auch für
den weit entfernten ersten Kreuzzug und das Handeln der Reformpäpste, da er
die Geschichte insgesamt apokalyptisch zu deuten versuchte. Lambert wollte also
zunächst offenbar umfassend historisches Wissen sammeln, um die Konflikte seiner
Welt zu deuten und zu erklären. ⁸⁶
Um das von ihm angesammelte Wissen zu organisieren, zu vervollständigen und
für seine Gemeinschaft zugänglich zu machen, nahm er jedoch formale Anregungen
aus einer vorliegenden Gattung der Wissensorganisation auf: Wie Derolez wahrscheinlich
macht, erhielt Lambert Anregungen von Isidors Etymologiae ⁸⁷ und von
einer heute nur noch in Fragmenten erhaltenen Enzyklopädie aus dem benachbarten,
großen und traditionsreichen Benediktinerkloster St. Bertin. ⁸⁸ Sehr spät im
Kompilationsprozess erhielt er zudem Kenntnis von Hrabanus Maurus’ De rerum
naturis, einer Adaptation der grundlegenden Natur- und Weltenzyklopädie Isidors.
⁸⁹ Lambert kreuzte also die bei ihm offenbar angesammelte Menge historischer
und lokalhistorischer Texte mit stärker auf Naturwissen ausgerichteten Texten.
Doch er wollte den Insassen seines Stifts offenbar auch noch weiteres Wissen
zugänglich machen, was darauf hindeutet, dass er sein großes Werk als eine Art
Bibliotheksersatz verstand. Er bediente sich also bei zeitgenössischen Schriftstellern
zu bestimmten theologischen Fragen, unter anderem bei Anselm von Laon, dessen
Schüler Wilhelm von Champeaux, aber auch Anselm von Canterbury. ⁹⁰ Insgesamt
versammelte Lambert Informationen zu Schöpfung, Heilsgeschichte, Natur und
Geographie, zu kanonischem Recht, zu den Wissensdisziplinen der Artes liberales,
zur Theologie und aktuellen Streitfragen wie dem Umgang mit Juden. Zudem
fügte er differenziertes und geographisch breit gestreutes Geschichtswissen über
Flandern, Frankreich, England und das heilige Land zusammen, endete schließlich
mit einem eschatologisch-apokalyptischen Teil. Aufgrund dieser Kombination eines
spezifischen Gebrauchskontextes sowie einer offenbar als umfassend gedachten
85 Vgl. mit diversen Beispielen z.B. Antonia Gransden, Historical Writing in England: c. 500 to c. 1307,
London 1996.
86 Dass die Erstellung einer umfangreichen und teuren Enzyklopädie zumeist mit bewusstem Willen zur
Innovation vor sich ging, betont schon Meier, Einführung (wie Anm. 17), S. 16. Vgl. ebd. zur »Bestandsaufnahme,
in der das Vorhandene unter verstärktem Interesse an weiträumiger Überschau gesammelt und
geordnet wird«, als Motiv des zwölften Jahrhunderts.
87 Vgl. Derolez, The Autograph Manuscript (wie Anm. 84), S. 30.
88 Vgl. Derolez, The Autograph Manuscript (wie Anm. 84), S. 30.
89 Derolez, The Autograph Manuscript (wie Anm. 84), S. 170.
90 Vgl. Derolez, The Autograph Manuscript (wie Anm. 84), S. 162–170.
mittelalters. ⁸⁵ Lambert erlebte sozusagen vor seiner Tür die Eroberung Englands
1066 und den Aufstieg der Grafen von Flandern, interessierte sich aber auch für
den weit entfernten ersten Kreuzzug und das Handeln der Reformpäpste, da er
die Geschichte insgesamt apokalyptisch zu deuten versuchte. Lambert wollte also
zunächst offenbar umfassend historisches Wissen sammeln, um die Konflikte seiner
Welt zu deuten und zu erklären. ⁸⁶
Um das von ihm angesammelte Wissen zu organisieren, zu vervollständigen und
für seine Gemeinschaft zugänglich zu machen, nahm er jedoch formale Anregungen
aus einer vorliegenden Gattung der Wissensorganisation auf: Wie Derolez wahrscheinlich
macht, erhielt Lambert Anregungen von Isidors Etymologiae ⁸⁷ und von
einer heute nur noch in Fragmenten erhaltenen Enzyklopädie aus dem benachbarten,
großen und traditionsreichen Benediktinerkloster St. Bertin. ⁸⁸ Sehr spät im
Kompilationsprozess erhielt er zudem Kenntnis von Hrabanus Maurus’ De rerum
naturis, einer Adaptation der grundlegenden Natur- und Weltenzyklopädie Isidors.
⁸⁹ Lambert kreuzte also die bei ihm offenbar angesammelte Menge historischer
und lokalhistorischer Texte mit stärker auf Naturwissen ausgerichteten Texten.
Doch er wollte den Insassen seines Stifts offenbar auch noch weiteres Wissen
zugänglich machen, was darauf hindeutet, dass er sein großes Werk als eine Art
Bibliotheksersatz verstand. Er bediente sich also bei zeitgenössischen Schriftstellern
zu bestimmten theologischen Fragen, unter anderem bei Anselm von Laon, dessen
Schüler Wilhelm von Champeaux, aber auch Anselm von Canterbury. ⁹⁰ Insgesamt
versammelte Lambert Informationen zu Schöpfung, Heilsgeschichte, Natur und
Geographie, zu kanonischem Recht, zu den Wissensdisziplinen der Artes liberales,
zur Theologie und aktuellen Streitfragen wie dem Umgang mit Juden. Zudem
fügte er differenziertes und geographisch breit gestreutes Geschichtswissen über
Flandern, Frankreich, England und das heilige Land zusammen, endete schließlich
mit einem eschatologisch-apokalyptischen Teil. Aufgrund dieser Kombination eines
spezifischen Gebrauchskontextes sowie einer offenbar als umfassend gedachten
85 Vgl. mit diversen Beispielen z.B. Antonia Gransden, Historical Writing in England: c. 500 to c. 1307,
London 1996.
86 Dass die Erstellung einer umfangreichen und teuren Enzyklopädie zumeist mit bewusstem Willen zur
Innovation vor sich ging, betont schon Meier, Einführung (wie Anm. 17), S. 16. Vgl. ebd. zur »Bestandsaufnahme,
in der das Vorhandene unter verstärktem Interesse an weiträumiger Überschau gesammelt und
geordnet wird«, als Motiv des zwölften Jahrhunderts.
87 Vgl. Derolez, The Autograph Manuscript (wie Anm. 84), S. 30.
88 Vgl. Derolez, The Autograph Manuscript (wie Anm. 84), S. 30.
89 Derolez, The Autograph Manuscript (wie Anm. 84), S. 170.
90 Vgl. Derolez, The Autograph Manuscript (wie Anm. 84), S. 162–170.