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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0251
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6. Rezeptionen und Wirkungen

Diese zur Mitte des 15. Jahrhunderts in der Baseler Kartause entstandene Hand-
schrift präsentiert eine Fassung von Ludolfs Vorlage, die - unter Beibehaltung
der Grundstruktur - bereits deutlich erweitert ist und mit der Betonung des dem
Oberen geschuldeten Gehorsams („neque transgrediatur terminos quos statuer-
unt patres sui“) einen eigenen Schwerpunkte setzt.
Von besonderem Interesse ist hier zudem die unmittelbare Fortsetzung des
eben wiedergegebenen Textes, durch die das Ludolf entnommene Material mit
weiteren Bausteinen zu einem neuen Ganzen kombiniert wird:

Ba Basel, UB, MS B X 39, 55r-56r87

Nota differentiam inter conscien-
tiam et timorem conscientie.

Beachte den Unterscheid zwischen dem Ge
wissen und der Gewissensfurcht

Nota etiam, quod aliud est con-
scientia, aliud timor conscientie.
Tune enim est conscientia,
quando quis sententialiter iudi-
cat, aliquid esse faciendum vel vi-
tandum. Contra talem conscien-
tiam facere, etiam si sit erronea,
peccatum est. Sed contra timorem
conscientie facere non semper est
peccatum, quia talis timor non
semper est ex diffinitiva sententia
rationis, per quam iudicet se te-
neri ad aliud. Sed ex eo, quod va-
cillat inter dubia nesciens, quid sit
melius vel ad quid teneatur po-
tius, cum tarnen non omitteret,
quidquid sciret esse placitum di-
vine voluntati.87 88

Beachte außerdem, dass eine ist das Gewis-
sen, das andere die Gewissensfurcht. Dann
nämlich ist es das Gewissen, wenn einer
durch einen Urteilsspruch entscheidet, dass
etwas zu tun oder zu unterlassen ist. Gegen
ein derartiges Gewissen zu handeln, ist
Sünde, selbst wenn es irrt. Gegen die Ge-
wissensfurcht zu handeln, ist hingegen nicht
immer Sünde, weil eine derartige Furcht
nicht immer aus endgültigen Vernunftent-
scheidungen erwächst, aufgrund derer man
sich entscheidet, auf irgend etwas anderes
acht zu geben. Sondern [sie erwächst] aus
dem, was zwischen Zweifeln schwankt,
nicht wissend, was besser wäre, oder woran
man sich eher halten sollte, obgleich sie den-
noch all das nicht auslässt, von dem sie weiß,
dass es dem göttlichen Willen gefällt.

87 Vgl. Katalog Basel, B2, S. 801.
88 Hugo Ripelin von Strassburg, Compendium theologicae veritatis, lib. II, cap. 52, S. 74 b; von
dort hat diese Passage in identischer Form auch Lope de Barrientos in seinen Clavis sapientie
übernommen: § 46, S. 331. Der Abschnitt ist mit leichten Abweichungen auch im Gerson
zugeschriebenen Compendium theologiae, Sp. 400, enthalten. Separat, aber ohne eigene Über-
schrift ist diese Passage auch in der Handschrift Wien, ÖNB, MS 1354, 99ra überliefert, vgl.
Katalog Wien 1, S. 225f.
 
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