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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0347
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346

6. Rezeptionen und Wirkungen

ten.509 Dadurch verlor das Gewissen nicht seinen Status als zentrale Norminstanz
im Menschen, es wurde jedoch in neuer Weise verinnerlicht und für die Aufklä-
rer - so für Rousseau - zum Ausdruck einer „nicht mehr hintergehbaren, in-
nersten Überzeugung“510. Der Richter des Menschen saß in ihm selbst:511 Auch
Laien lernten nun, sich selbst zu be-, ja zu verurteilen.512 Zugleich brach sich hier
eine bereits bei Calvin angelegte Betonung des Gefühlsaspektes Bahn.513 Insbe-
sondere in den Strömungen der französischen, aber auch der deutschen und eng-
lischen Aufklärungsphilosophie verlor das Gewissen seine mediale Funktion ei-
ner unmittelbar vernehmlichen Stimme Gottes und wurde stattdessen zur für
den Sensiblen vernehmbaren Stimme der Natur514 - einer Natur, die sich, so
Rousseau, im Inneren des Menschen manifestierte.515
Als neue Richtschnur eines solchen Gewissens fungierte nicht mehr das Bü-
cherwissen der Kasuisten, sondern die Empfindung desjenigen, der entscheiden
musste.516 Nicht mehr hypothetische Fälle dienten als Maßstab, an denen der
Gläubige sein Handeln auszurichten hatte, sondern er selbst sollte mit Hilfe Got-
tes, seiner Einsicht, seiner Vernunft oder seines Gefühls zu Urteilen kommen.
Was sich hier vollzog, war in gewisser Weise eine Renaissance jenes Verständnis-
ses des 12. Jahrhunderts, in dem das Gewissensurteil ebenfalls ganz unmittelbar
der Verantwortung des Einzelnen übertragen worden war. Ein großer Unter-
schied zwischen jenem Modell des Mittelalters und den Theorien der Aufklärung
509 Zur Verrechtlichung vgl. oben S. 291f. Zu den gegenläufigen Entwicklungen bemerkte Niklas
Luhmann: „Seit dem 18. Jahrhundert haben sich Gewissensethos und Recht auseinanderentwi-
ckelt. Das Gewissen hat sich verinnerlicht, das Recht sich veräußerlicht. Die zugleich einsetzen-
de Trennung von Recht und Ethik einerseits und die Trennung dieser normativen Ordnungen
vom Wahrheitsbereich der Wissenschaften andererseits haben die neuzeitliche Gewissensidee
konturiert.“ N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 262.
510 Fr. Cheneval, Jean-Jacques Rousseau, S. 641: „Im Gewissen ist nicht nur die Ethik, sondern
seine ganze Philosophie verankert.“
511 Vgl die von Andreas Bähr dargestellten und analysierten Fälle von Suizid, bei denen häufig
von der unerträglichen Last des Gewissens die Rede ist, die den Menschen in die Verzweilung
und schließlich in den Freitod trieb. A. Bähr, Der Richter im Ich. Entsprechende Befunde aus
der vita religiosa des Mittelalters bei G. Melville, Der Mönch als Rebell.
512 Vgl. zu diesen Prozessen R. Schussler, Moral im Zweifel, Bd. 2, S. 182-9.
513 Vgl. R. Lindemann, Der Begriff der conscience, S. 98f.; J. Stelzenberger, Syneidesis, Consci-
entia, Gewissen, S. 108f.
514 Fr. Cheneval, Jean-Jacques Rousseau, S. 645; J. Stelzenberger, Syneidesis, Conscientia, Ge-
wissen, S. 109; G. Schiemann, Die Sprache der Natur, S. 109f. Für Kant vgl. Th. S. Hoff-
mann, Gewissen als praktische Apperzeption, S. 430. Zu Gewissenskonzeptionen in der eng-
lisch-schottischen Aufklärung vgl. E. G. Andrew, Conscience and its Critics.
515 „[...] mais la conscience ne trompe jamais; eile est le vrai guide de l’homme: eile est ä l’äme ce
que l’instinct est au corps; qui la suit obeit ä la nature, et ne craint point de s’egarer.“ J. J. Rous-
seau, Emile, ou De l’education, IV, S. 419.
516 Vgl. H. D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 213-5.
 
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