Die Hölle im Menschen I 17
Es kann somit nicht verwundern, wenn sich kaum Zeugnisse finden lassen,
die auf ein ruhiges Gewissen derjenigen hindeuten, die sich selbst prüften. Auch
wenn es Gott das liebste sei, wäre ein solches gutes und ruhiges Gewissen auf
dieser Welt nur ein „seltener Vogel“, heißt es unter Berufung auf Juvenal in ei-
nem zeittypischen Gewissenstraktat des 12. Jahrhunderts.10 Die meisten Reli-
giösen hingegen besaßen gerade kein ruhiges Gewissen, sondern eines, das sie
ängstigte und plagte: Die Unruhe war zuvorderst Ausdruck einer Unsicherheit,
die zur Qual werden konnte. Dabei musste das Gewissen nicht einmal objektiv
schlecht sein - es genügte zu empfinden, dass es so wäre. Legion sind die Be-
kenntnisse derer, die an sich selbst litten, deren Gewissen unruhig war, weil sie
meinten, als Sünder zu leben, auch wenn dieser Eindruck nur persönlichem
Empfinden entsprang, wohingegen andere an ihnen vielmehr Zeichen vorbild-
haften Lebenswandels zu erkennen meinten.11 Ein solche Hoffnungslosigkeit
konnte zur Ungläubigkeit gegenüber der Gnade Gottes anwachsen und sich zur
Sünde wider den Heiligen Geist, zur desperatio, steigern - der einzigen Sünde,
die Gott nicht vergibt.12 Einem Gregor dem Großen zugeschriebenem Gemein-
platz zufolge hielten sich gerade die tatsächlich Guten für besonders schlecht.13
Gert Melville, Im Zeichen der Allmacht. Zur Präsenz Gottes im klösterlichen Leben des
hohen Mittelalters, in: Ders. (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Instituti-
onelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln 2005, S. 19-44.
10 So unter Bezug auf die Satiren des Juvenal im anonymen Traktat „Von den vier Arten der
Gewissen“, cap. II.1, in: Mirko Breitenstein, Vier Arten des Gewissens. Spuren eines Ord-
nungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne (Klöster als Innovationslabore 4), Regens-
burg 2017, S. 190.
11 Vgl. zur durch Caesarius von Heisterbach berichteten Geschichte eines Laienbruders, der in
den Augen seiner Mitbrüder ein vorbildliches Leben führt, sich aber dennoch selbst tötet,
weil er sich für verdammt hält, meine Studie: Living with Demons. The Horror of the Bey-
ond as a Challenge of Life in the Middle Ages, in: Gert MELViLLE/Carlos Ruta (Hgg.), Ex-
periencing the Beyond. Intercultural Approaches (Challenges of Life. Essays on Philosophi-
cal and Cultural Anthropology 4), Berlin/Boston 2018, S. 121-137; zu ähnlich motivierten
Fällen von Suizid vgl. Gert Melville, Der Mönch als Rebell gegen gesalzte Ordnung und
religiöse Tugend. Beobachtungen zu Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.),
De ordine vitae. Zu Normvorstellungen, Organisationsformen und Schriftlichkeit im mittel-
alterlichen Ordenswesen (Vita regularis, Abhandlungen 1), Münster 1996, S. 153-186, hier
178-181.
12 Vgl. hierzu mit reichem Material Friedrich Ohly, Desperatio und Praesumptio. Zur theolo-
gischen Verzweiflung und Vermessenheit, in: Ders., Ausgewählte und neue Schriften zur
Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, hg. von Uwe RuBERG/Dietmar Peil,
Stuttgart/Leipzig 1995, S. 177-216 [zuerst in: Helmut Birkhan (Hg.), Festgabe für Otto
Höfler (Philologica Germanica 3), Wien/Stuttgart 1976, S. 499-556].
13 Vgl. hierzu mit Verweisen auf Jean Gerson, bei dem sich die Zuschreibung an Gregor findet,
Sven Grosse, Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes
Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit (Beiträge zur historischen
Theologie 85), Tübingen 1994, S. 54, 121, 170; sowie im Kontext geistlicher Anfechtungen
Es kann somit nicht verwundern, wenn sich kaum Zeugnisse finden lassen,
die auf ein ruhiges Gewissen derjenigen hindeuten, die sich selbst prüften. Auch
wenn es Gott das liebste sei, wäre ein solches gutes und ruhiges Gewissen auf
dieser Welt nur ein „seltener Vogel“, heißt es unter Berufung auf Juvenal in ei-
nem zeittypischen Gewissenstraktat des 12. Jahrhunderts.10 Die meisten Reli-
giösen hingegen besaßen gerade kein ruhiges Gewissen, sondern eines, das sie
ängstigte und plagte: Die Unruhe war zuvorderst Ausdruck einer Unsicherheit,
die zur Qual werden konnte. Dabei musste das Gewissen nicht einmal objektiv
schlecht sein - es genügte zu empfinden, dass es so wäre. Legion sind die Be-
kenntnisse derer, die an sich selbst litten, deren Gewissen unruhig war, weil sie
meinten, als Sünder zu leben, auch wenn dieser Eindruck nur persönlichem
Empfinden entsprang, wohingegen andere an ihnen vielmehr Zeichen vorbild-
haften Lebenswandels zu erkennen meinten.11 Ein solche Hoffnungslosigkeit
konnte zur Ungläubigkeit gegenüber der Gnade Gottes anwachsen und sich zur
Sünde wider den Heiligen Geist, zur desperatio, steigern - der einzigen Sünde,
die Gott nicht vergibt.12 Einem Gregor dem Großen zugeschriebenem Gemein-
platz zufolge hielten sich gerade die tatsächlich Guten für besonders schlecht.13
Gert Melville, Im Zeichen der Allmacht. Zur Präsenz Gottes im klösterlichen Leben des
hohen Mittelalters, in: Ders. (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Instituti-
onelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln 2005, S. 19-44.
10 So unter Bezug auf die Satiren des Juvenal im anonymen Traktat „Von den vier Arten der
Gewissen“, cap. II.1, in: Mirko Breitenstein, Vier Arten des Gewissens. Spuren eines Ord-
nungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne (Klöster als Innovationslabore 4), Regens-
burg 2017, S. 190.
11 Vgl. zur durch Caesarius von Heisterbach berichteten Geschichte eines Laienbruders, der in
den Augen seiner Mitbrüder ein vorbildliches Leben führt, sich aber dennoch selbst tötet,
weil er sich für verdammt hält, meine Studie: Living with Demons. The Horror of the Bey-
ond as a Challenge of Life in the Middle Ages, in: Gert MELViLLE/Carlos Ruta (Hgg.), Ex-
periencing the Beyond. Intercultural Approaches (Challenges of Life. Essays on Philosophi-
cal and Cultural Anthropology 4), Berlin/Boston 2018, S. 121-137; zu ähnlich motivierten
Fällen von Suizid vgl. Gert Melville, Der Mönch als Rebell gegen gesalzte Ordnung und
religiöse Tugend. Beobachtungen zu Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.),
De ordine vitae. Zu Normvorstellungen, Organisationsformen und Schriftlichkeit im mittel-
alterlichen Ordenswesen (Vita regularis, Abhandlungen 1), Münster 1996, S. 153-186, hier
178-181.
12 Vgl. hierzu mit reichem Material Friedrich Ohly, Desperatio und Praesumptio. Zur theolo-
gischen Verzweiflung und Vermessenheit, in: Ders., Ausgewählte und neue Schriften zur
Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, hg. von Uwe RuBERG/Dietmar Peil,
Stuttgart/Leipzig 1995, S. 177-216 [zuerst in: Helmut Birkhan (Hg.), Festgabe für Otto
Höfler (Philologica Germanica 3), Wien/Stuttgart 1976, S. 499-556].
13 Vgl. hierzu mit Verweisen auf Jean Gerson, bei dem sich die Zuschreibung an Gregor findet,
Sven Grosse, Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes
Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit (Beiträge zur historischen
Theologie 85), Tübingen 1994, S. 54, 121, 170; sowie im Kontext geistlicher Anfechtungen