Metadaten

Anzulewicz, Henryk; Breitenstein, Mirko [Hrsg.]; Melville, Gert [Hrsg.]
Die Wirkmacht klösterlichen Lebens: Modelle - Ordnungen - Kompetenzen - Konzepte — Klöster als Innovationslabore, Band 6: Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.54634#0107
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Macht formaler Verfahren I 103

Weit mehr als 90 % aller Fälle der Cluniazenser und Zisterzienser im 13. Jahr-
hundert, die durch das Generalkapitel als höchste Gerichtsinstanz entschieden
wurden, betraf Sachlagen, die ordensintern entstanden waren (davon ging es bei
etwa der Hälfte um Belange der Wirtschaft und der res sacra, bei der anderen
Hälfte um Belange der Disziplin). Obgleich es bei Girardus de Arvernia, dem
kritischen Beobachter der Cluniazenser jener Zeit hieß, die Vorsteher der Klös-
ter befänden sich angesichts des verbreiteten Ungemachs, das sie durch den Adel
und den Hohen Klerus für ihre Häuser erlitten, fortwährend zwischen Hammer
und Amboss,22 waren es bei den Cluniazensern nur 3 % und bei den Zisterzien-
sern nur 4 % aller Fälle, die sträfliche Taten durch diesen Personenkreis betra-
fen. Gleichwohl handelte es sich dabei überwiegend um äußerst gravierende
Fälle, wie z. B. um den Entzug von Ländereien, von Klosterrechten oder ander-
weitige Eingriffe dritter Mächte. Im Folgenden soll anhand solcher Fälle ein
knapper, exemplarischer Durchgang durch den Fächer einschlägiger Verfahren
versucht werden, wobei mit der Behandlung endogener Störungen begonnen
wird. Sodann sind diejenigen Fälle an den Systemgrenzen (gegen exogene
Mächte) sowie letztlich Konflikte, welche über die Systemgrenzen hinausgingen
(Hinzuziehung exogener Mächte) zu diskutieren.
Den Ausgangspunkt bildeten die jeweils durch die Visitatoren erhobenen und
an das Generalkapitel weitergeleiteten Tatbestände, die nicht vor Ort behoben
werden konnten, wobei unterschiedliche Visitationspraktiken bei Cluniazen-
sern und Zisterziensern Anwendung fanden. Sie spiegeln die vertikal (Zisterzi-
enser) bzw. horizontal (Cluniazenser) miteinander verbundenen Einzelglieder
im Beziehungsgeflecht wieder.23 Bei den cluniazensischen Visitatoren handelte
es sich ab den Statuten Abt Hugos V. (1200) um einen oder zwei Kämmerer,
welchen in den eingerichteten Ordensprovinzen Kontroll- und Korrekturrechte
zugewiesen wurden. Ab der Reformbulle Behemoth Papst Gregors IX. (1233)
wurden die Visitatoren auf dem Generalkapitel aus den anwesenden Klostervor-
stehern ernannt, seit der Bulle Regis pacifici Papst Nikolaus IV. (1289) gewählt.
Im Unterschied zu diesem System handelte es sich bei den Zisterziensern um ein
Filiationsprinzip, bei dem der Vaterabt seine Tochterklöster zu kontrollieren
hatte. Überschritten die erhobenen Tatbestände die Handlungsmöglichkeiten

22 Vgl. dazu Gert Melville, Die ,Exhortatiunculae‘ des Girardus de Arvernia an die Clunia-
zenser. Bilanz im Alltag einer Reformierungsphase, in: Dieter BERG/Hans-Werner Goetz
(Hgg.), Ecclesia et regnum: Beiträge zur Geschichte von Kirche, Recht und Staat im Mittel-
alter: Festschrift für Franz-Josef Schmale zu seinem 65. Geburtstag, Bochum 1989, S. 203-
234, hier S. 209ff. mit luzider Beschreibung der Mahnschrift unter Berücksichtigung der
wichtigsten Zusammenhänge und Aussagen.
23 Vgl. Oberste, Visitation (wie Anm. 20), S. 399.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften