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Anzulewicz, Henryk; Breitenstein, Mirko [Hrsg.]; Melville, Gert [Hrsg.]
Die Wirkmacht klösterlichen Lebens: Modelle - Ordnungen - Kompetenzen - Konzepte — Klöster als Innovationslabore, Band 6: Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.54634#0225
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Die Welt in Geschichten erfassen I 221

nicht irgendein kirchlicher Gesandter, sondern mit Hugo von Segni (ca. 1170—
1241), dem späteren Papst Gregor IX. (seit 1227), eine den Zeitgenossen be-
kannte Persönlichkeit; der Verweis auf den als „mendikantenfreundlich“ gel-
tenden Gregor IX. impliziert überdies einen Ausweis der besonderen Nähe des
Gewährsmannes zu den Mendikanten im Allgemeinen und den Dominikanern
im Besonderen, denen Stephan von Bourbon selbst angehörte. Als ebenso ty-
pisch wie die Nennung eines prominenten Hauptakteurs muss es freilich gel-
ten, dass der Erzählweg selbst unklar bleibt - Stephan von Bourbon beschränkt
sich auf ein vages „ich habe gehört“ und macht damit einen Nachvollzug der
Geschichte unmöglich. Wesentlich ausschlaggebender ist ohnehin die zweite
„Gewährsquelle“: Das im Exempel angezeigte menschliche Fehlverhalten wird
nicht etwa durch den urteilenden Legaten offengelegt, sondern durch die über
dem Haus des Streitführers nistenden Störche. Während ihr Beispiel zunächst
einen lebensweltlichen Anknüpfungspunkt darstellt, der für alle Leser oder
Zuhörer verständlich und vielleicht auch erheiternd gewesen sein dürfte, klingt
zugleich eine theologische Ausdeutung an. Es sind die im Mittelalter als fromm,
vorausschauend und göttliche Diener geltenden Störche, die den Rezipienten der
Geschichte gemahnen, das kirchliche Urteil gleichermaßen zu fürchten und zu
respektieren. Auch mit dieser Bezugnahme, der Heranziehung von Lebewesen
und Phänomenen der Natur, die gleichsam zum „Gottesdienst“, zum Lehrstoff
und Handlungsvorbild der Gläubigen werden sollten, ist ein Charakteristikum
zahlreicher Exempel des 13. Jahrhunderts angesprochen.3
Anders als in vielen Exempelgeschichten wird die bei Stephan von Bourbon
überlieferte Storchengeschichte jedoch nicht mit einer Ausdeutung beschlossen;
die Kernaussage der Geschichte ist vielmehr im ersten Satz des Abschnittes fol-
gendermaßen zusammengefasst: „Tiere lehren uns, das Urteil der Exkommuni-
kation zu fürchten und zu achten, und dies tun sie durch ein Beispiel und ein
göttliches Wunder.“4 Diese Einleitung verortet die Geschichte zugleich im
Gesamtwerk: Der um die Mitte des 13. Jahrhundert entstandene Tractatu-s de
diversis materüs praedicabilibus ist ein Handbuch für Prediger, das der Domini-
3 Christian Hünemörder, Die Vermittlung medizinisch-naturwissenschaftlichen Wissens in
Enzyklopädien, in: Norbert Richard Wolf (Hg.), Wissensorganisierende und wissensver-
mittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung (Wissensliteratur im Mit-
telalter 1), Wiesbaden 1987, S. 255-277, Zitat S. 258. Grundlegend zur Tierallegorie in mittel-
alterlichen Exempeln: Marie Anne Polo de Beaulieu, Du bon usage de l’animal dans les
recueils medievaux d’exempla, in: Jacques BERLioz/Marie Anne Polo de Beaulieu (Hgg.),
L’animal exemplaire au Moyen Age (Ve-XVe siede), unter Mitarbeit von Pascal Collomb
(Collection „Histoire“), Rennes 1999, S. 127-170.
4 Anecdotes historiques (wie Anm. 1), Nr. 303, S. 255: Sentenciam excommunicdcionis docent
timere et cavere animalia, exemplo et divino miraculo hoc agente.
 
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