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Anzulewicz, Henryk; Breitenstein, Mirko [Hrsg.]; Melville, Gert [Hrsg.]
Die Wirkmacht klösterlichen Lebens: Modelle - Ordnungen - Kompetenzen - Konzepte — Klöster als Innovationslabore, Band 6: Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.54634#0226
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222 I Julia Burkhardt

kaner Stephan von Bourbon explizit an seinen Orden adressierte. Weit über den
Charakter einer einfachen Zusammenstellung von Exempla hinausgehend, um-
fasst der Tractatus moralische Lehrgeschichten, die nach dem strikten theologi-
schen Schema der „Sieben Gaben des Heiligen Geistes“ angeordnet sind. Von
den ursprünglich geplanten sieben Büchern, die sich jeweils einer Gabe widmen
sollten, wurden nur die ersten vier Bücher fertiggestellt: „Von der Gabe der
Furcht“, „Von der Gabe der Frömmigkeit“, „Von der Gabe der Weisheit“ und
schließlich „Von der Gabe der Stärke“, aus dessen Erzählfundus auch die zitierte
Geschichte stammt. Das der fortitudo gewidmete Buch ist wiederum in weitere,
mehrere Geschichten umfassende Abschnitte gegliedert, von denen einer die
sieben Laster der Menschheit (Titulus septimus: De septem viciis et eorum specie-
bus) behandelt. Im Abschnitt über den Trotz und den Widersinn findet sich
schließlich die Storchenepisode, eingebettet zwischen eine Geschichte über
einen Wucherer, der seine Exkommunikation nicht akzeptieren will, und die
Exkommunikation von Sperlingen, die einen Gottesdienst in der Kirche Saint-
Vincent de Mäcon stören.3
Diese sorgfältige Anordnung und Verknüpfung einzelner, inhaltlich vonein-
ander losgelöster Geschichten macht deutlich, dass Exempelgeschichten bei Ste-
phan von Bourbon nicht nur wegen ihrer rhetorischen Wirkkraft zum Einsatz
kommen. Vielmehr wird ihnen im gesamten Tractatus, wie Alan Bernstein
herausgearbeitet hat, auch eine „religiöse Signifikanz“ zugeschrieben. Bern-
stein plädiert deshalb dafür, mittelalterliche Exempel nicht auf ihren illustrati-
ven Charakter zu beschränken, sondern sie als Quellen für die Identität und den
Missionssinn der sie verwendenden Geistlichen zu lesen.5 6 Dafür unterscheidet
er drei Funktionsebenen, auf denen Exempel zum Einsatz kommen und Wir-
kung entfalten konnten, nämlich eine vornehmlich rhetorisch-persuasive Ebene,
eine verhaltensbezogene oder handlungsanleitende und schließlich eine religiös-
sakramentale Funktionsebene.
Tatsächlich erlaubt es ein solch umfassender Zugang, neben der narrativ-illus-
trativen Funktion des Exempels als Medium einer leicht zugänglichen Rhetorik
weitere Sinn- und Funktionsebenen zu berücksichtigen. Ins Zentrum der
Untersuchung können dann nicht nur die Aussage der jeweiligen Geschichte,
sondern auch der Autor bzw. Kompilator, die Konzeption seines Werkes im
5 Anecdotes historiques (wie Anm. 1), Nr. 304, S. 254-255 sowie S. 255-256.
6 Alan E. Bernstein, The Exemplum as „Incorporation“ of Abstract Truth in the Thought of
Humbert of Romans and Stephen of Bourbon, in: Laurent MAYALi/Stephanie A. J. Tibbetts
(Hgg.), The Two Laws. Studies in Medieval Legal History Dedicated to Stephan Kuttner
(Studies in Medieval and Early Modern Canon Law 1), Washington D.C. 1990, S. 82-96, hier
S. 83.
 
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