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Burkhardt, Julia; Thomas; Burkhardt, Julia [Hrsg.]
Von Bienen lernen: das "Bonum universale de apibus" des Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf : Analyse, Edition, Übersetzung, Kommentar (Teilband 1): Analyse und Anhänge — Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.56852#0044
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II.1. Narrativer Funktionskontext: Exemplarisches Erzählen im 13. Jahrhundert

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Wunder.“14 Diese Einleitung verortet die Geschichte zugleich im Gesamtwerk: Der
um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene Tractatus de diversis materiispraedi-
cabilibus ist ein Handbuch für Prediger, das der Dominikaner Stephan von Bourbon
explizit an seinen Orden adressierte. Weit über den Charakter einer einfachen Exem-
pel-Zusammenstellung hinausgehend, umfasst der Tractatus moralische Lehrge-
schichten, die nach dem strikten theologischen Schema der „Sieben Gaben des Heili-
gen Geistes“ angeordnet sind. Von den ursprünglich geplanten sieben Büchern, die
sich jeweils einer Gabe widmen sollten, wurden nur die ersten vier Bücher fertigge-
stellt: „Von der Gabe der Furcht“, „Von der Gabe der Frömmigkeit“, „Von der Gabe
der Weisheit“ und schließlich „Von der Gabe der Stärke“, aus dessen Erzählfundus
auch die zitierte Geschichte stammt.15 Das der fortitudo gewidmete Buch ist wieder-
um in weitere, mehrere Geschichten umfassende Abschnitte gegliedert, von denen
einer die sieben Laster der Menschheit (Titulus septimus: De septem viciis et eorum
speciebus) behandelt. Im Abschnitt über den Trotz und den Widersinn findet sich
schließlich die Storchenepisode, eingebettet zwischen eine Geschichte über einen
Wucherer, der seine Exkommunikation nicht akzeptieren will,16 und die Exkommu-
nikation von Sperlingen, die einen Gottesdienst in der Kirche Saint-Vincent von Mä-
con stören.17
Diese sorgfältige Anordnung und Verknüpfung einzelner, inhaltlich voneinander
losgelöster Geschichten macht deutlich, dass Exempelgeschichten bei Stephan von
Bourbon nicht nur wegen ihrer rhetorischen Wirkkraft zum Einsatz kommen. Viel-
mehr wird ihnen im gesamten Tractatus, wie Alan Bernstein herausgearbeitet hat,
auch eine „religiöse Signifikanz“ zugeschrieben. Bernstein plädiert deshalb dafür,
mittelalterliche Exempel nicht auf ihren illustrativen Charakter zu beschränken, son-
dern sie als Quellen für die Identität und den Missionssinn der sie verwendenden
Geistlichen zu lesen.18 Dafür unterscheidet er drei Funktionsebenen, auf denen Ex-
empel zum Einsatz kommen und Wirkung entfalten konnten, nämlich eine vornehm-
lich rhetorisch-persuasive Ebene, eine verhaltensbezogene oder handlungsanleitende
und schließlich eine religiös-sakramentale Funktionsebene.19
14 Anecdotes historiques, Nr. 303, S. 255: Sentenciam excommunicacionis docent timere et cavere
animalia, exemplo et divino miraculo hoc agente.
15 S. hierzu die Einleitung von Jacques Berlioz zur Edition: Berlioz, Introduction, S. XV-XLVII.
16 Anecdotes historiques, Nr. 302, S. 254-255.
17 Anecdotes historiques, Nr. 304, S. 255-256. Zu den Tugenden bzw. Lastern im Tractatus s. Young,
Subsidiary Sins, mit einer Übersicht auf S. 210-215 (zu Buch IV).
18 Bernstein, Exemplum, S. 83. Vgl. auch den Hinweis bei Schürer, Beispiel im Begriff, S. 226, auf
Stephans Prolog und die dort betonten mnemotechnischen Aspekte sowie die Funktion des Exem-
pels, langfristig auf menschliche Haltungen und Einstellungen Einfluss zu nehmen.
19 Durch diese letzte Ebene (die besonders in den Werken Stephans von Bourbon und Humberts de
Romanis erkennbar sei) erhielten - so Bernstein - Exempel eine neue Dimension, indem sie nicht
nur abstrakte Geltungsprinzipien konkretisiert, sondern die christliche Wahrheit erst fühl- und
wahrnehmbar machten (Bernstein, Exemplum, S. 92). In vergleichbarer Weise unterscheidet auch
 
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