II.1. Narrativer Funktionskontext: Exemplarisches Erzählen im 13. Jahrhundert
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Jakob von Vitry betonte, dass er diese Sammlung als Ergänzung zu seinen Feiertags-
predigten {Sermones dominicales, festivales et volgares) konzipiert hatte - um sie
Predigern „wie das tägliche Brot zur täglichen Erfrischung der Seelen“ zur Verfü-
gung zu stellen.36
Bereits dieser Anspruch greift die beiden ersten Thesen über das exemplarische
Erzählen auf, nämlich die Voraussetzung gemeinschaftlich geteilter Normen und
Traditionen für dessen Funktionieren einerseits und andererseits die zeitunabhängige
Geltungskraft von Handlungsregeln, auf die sich Akteure in unterschiedlichen Kon-
texten einzulassen haben. Noch deutlicher werden diese Mechanismen jedoch in den
von Jakob zusammengetragenen Exempeln. Unter der Überschrift „Über einen
Schinken, der in einer gewissen Stadt hing“ {De bachone qui pendebat in quadam
villd) findet sich beispielsweise folgende Geschichte:
„Einmal durchquerte ich eine gewisse Stadt in Frankreich, wo man auf der Straße
einen Schinken aufgehängt hatte. Die Bedingung war folgende: Derjenige, der unter
Eid bestätigen wolle, dass er ein ganzes Jahr nach der Eheschließung mit seiner Frau
so gelebt hatte, dass er an der Ehe nicht gesündigt hatte, solle den Schinken bekom-
men. Und als dieser zehn Jahre lang dort gehangen hatte, hatte sich immer noch kein
Einziger gefunden, der den Schinken gewinnen konnte; denn alle hatten innerhalb
eines Jahres nach Eheschließung gesündigt.“37
Die Tradition der hier eingeforderten Ehetreue ist als gesellschaftliche Norm auch
heute noch präsent und macht Jakobs Geschichte damit auf Anhieb zugänglich. Die-
ses Faktum illustriert zugleich die zeitunabhängige Geltungskraft der beschriebenen
Norm; der abschließenden klagenden Mahnung des Autors über die eigene Gegen-
wart („Siehe, wie wenige heute treu und mit Liebe an ihren Frauen hängen und wie
es unser Herr Jesus Christus, der gesegnet sei auf Ewigkeit, eingerichtet hat.“) bedarf
es höchstens noch zur rhetorischen Untermauerung.
Die Handlungsanleitung, die sich aus diesem Exempel ergibt, ist zwar selbstver-
ständlich, bleibt jedoch implizit formuliert. Das ist nicht unbedingt typisch, da durch
auszubreiten. Ohne einen inneren Zusammenhang in der Gedankenfolge zu wahren, spricht Jakob
über die einzelnen Angaben des biblischen Berichtes und knüpft hieran Belehrungen über die
Glaubenslehre und das Sittengesetz der Kirche.“ Die Exempla, hg. Greven, S. XI.
36 Post sermones Dominicales, festiuales et volgares ad tanti operis consummacionem subiungere
temptauimus feriales et communies; vt, qui predictorum sermonum multitudinem non potuerint uel
noluerint habere, his vltimis et paucis contenti in promptu habeant quasi panem cotidianum ad
reficiendas animas omni die. Prolog, Die Exempla, hg. Greven, S. 2.
37 Die Exempla, hg. Greven, Nr. 63, S. 41, als Nr. 61 in: Die Exempla, hg. Frenken, S. 128. Eine ver-
gleichbare Darstellung eines Schinkens als Preis für eheliche Treue findet sich in Thom. Cantimpr.
BUA 11,49,12. Der darin in Aussicht gestellte „an einer goldenen Kette aufgehängte Schinken“
findet sich jedoch nur in den Varianten W2 und P2; V3 bietet dagegen mit nola ein Glöckchen als
(weniger attraktive?) Alternative.
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Jakob von Vitry betonte, dass er diese Sammlung als Ergänzung zu seinen Feiertags-
predigten {Sermones dominicales, festivales et volgares) konzipiert hatte - um sie
Predigern „wie das tägliche Brot zur täglichen Erfrischung der Seelen“ zur Verfü-
gung zu stellen.36
Bereits dieser Anspruch greift die beiden ersten Thesen über das exemplarische
Erzählen auf, nämlich die Voraussetzung gemeinschaftlich geteilter Normen und
Traditionen für dessen Funktionieren einerseits und andererseits die zeitunabhängige
Geltungskraft von Handlungsregeln, auf die sich Akteure in unterschiedlichen Kon-
texten einzulassen haben. Noch deutlicher werden diese Mechanismen jedoch in den
von Jakob zusammengetragenen Exempeln. Unter der Überschrift „Über einen
Schinken, der in einer gewissen Stadt hing“ {De bachone qui pendebat in quadam
villd) findet sich beispielsweise folgende Geschichte:
„Einmal durchquerte ich eine gewisse Stadt in Frankreich, wo man auf der Straße
einen Schinken aufgehängt hatte. Die Bedingung war folgende: Derjenige, der unter
Eid bestätigen wolle, dass er ein ganzes Jahr nach der Eheschließung mit seiner Frau
so gelebt hatte, dass er an der Ehe nicht gesündigt hatte, solle den Schinken bekom-
men. Und als dieser zehn Jahre lang dort gehangen hatte, hatte sich immer noch kein
Einziger gefunden, der den Schinken gewinnen konnte; denn alle hatten innerhalb
eines Jahres nach Eheschließung gesündigt.“37
Die Tradition der hier eingeforderten Ehetreue ist als gesellschaftliche Norm auch
heute noch präsent und macht Jakobs Geschichte damit auf Anhieb zugänglich. Die-
ses Faktum illustriert zugleich die zeitunabhängige Geltungskraft der beschriebenen
Norm; der abschließenden klagenden Mahnung des Autors über die eigene Gegen-
wart („Siehe, wie wenige heute treu und mit Liebe an ihren Frauen hängen und wie
es unser Herr Jesus Christus, der gesegnet sei auf Ewigkeit, eingerichtet hat.“) bedarf
es höchstens noch zur rhetorischen Untermauerung.
Die Handlungsanleitung, die sich aus diesem Exempel ergibt, ist zwar selbstver-
ständlich, bleibt jedoch implizit formuliert. Das ist nicht unbedingt typisch, da durch
auszubreiten. Ohne einen inneren Zusammenhang in der Gedankenfolge zu wahren, spricht Jakob
über die einzelnen Angaben des biblischen Berichtes und knüpft hieran Belehrungen über die
Glaubenslehre und das Sittengesetz der Kirche.“ Die Exempla, hg. Greven, S. XI.
36 Post sermones Dominicales, festiuales et volgares ad tanti operis consummacionem subiungere
temptauimus feriales et communies; vt, qui predictorum sermonum multitudinem non potuerint uel
noluerint habere, his vltimis et paucis contenti in promptu habeant quasi panem cotidianum ad
reficiendas animas omni die. Prolog, Die Exempla, hg. Greven, S. 2.
37 Die Exempla, hg. Greven, Nr. 63, S. 41, als Nr. 61 in: Die Exempla, hg. Frenken, S. 128. Eine ver-
gleichbare Darstellung eines Schinkens als Preis für eheliche Treue findet sich in Thom. Cantimpr.
BUA 11,49,12. Der darin in Aussicht gestellte „an einer goldenen Kette aufgehängte Schinken“
findet sich jedoch nur in den Varianten W2 und P2; V3 bietet dagegen mit nola ein Glöckchen als
(weniger attraktive?) Alternative.