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II. Das Werk
sich teilweise unter einem Anführer, teilweise sind sie ohne Anführer. Der Kranich
und die Gattung der Bienen leben beispielsweise unter einem Anführer, die Ameisen
und unzählige andere dagegen leben ohne Anführer.“59
Menschen und Tiere, genauer: Bienen, Wespen, Ameisen und Kraniche, stehen
hier ebenbürtig nebeneinander, weil ihre Lebensform sich durch die Qualität des
Gemeinwirkens vor derjenigen anderer Lebewesen auszeichnet. Erst in Aristoteles’
„Politik“ erhält dieser Vergleich eine zusätzliche Differenzierung, als Aristoteles
dem Menschen nämlich zuspricht, „mehr“ im Sinne von „auf vollkommenere Weise“
als etwa die Bienen ein Herdentier zu sein.60 Aristoteles’ Klassifizierung der Lebewe-
sen basiert folglich nicht auf biologischen, sondern sozialen Kriterien. Dabei ist ent-
scheidend, dass es nicht nur um das Zusammenleben verschiedener Geschöpfe geht.
Vielmehr werden die Form und mithin auch die Güte dieses Zusammenlebens in den
Blick genommen, denn erst das „Miteinander“ macht Aristoteles zufolge den Unter-
schied zu einem einfachen „Nebeneinander“ aus.61
Mit dieser Differenzierung ist eine wichtige methodische Debatte angesprochen,
die in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Forschung auch mit Blick auf das Mit-
telalter geführt wird: Was bedeutet „Gemeinschaft“? Wie entstehen Gemeinschaf-
ten? Was zeichnet sie aus?62 Bei der Erörterung dieser Fragen kann eine Unterschei-
dung zwischen den Begriffen „Gruppe“ und „Gemeinschaft“ helfen. So kann man
„Gruppen“ ebenso als eine Kategorie von Akteuren verstehen (also z.B. „die Kur-
fürsten“) wie auch als eine Klassifizierungskategorie (wie z. B. eine dynastische, eine
religiöse oder eine ethnische Gruppe). Dagegen zeichnen sich Gemeinschaften durch
spezifische Formen der Zugehörigkeit aus, die sowohl symbolisch konstruiert als
auch praktisch durchgeführt werden. In klösterlichen Gemeinschaften beispielsweise
59 Sunt autem et tales differentie secundum vitas et operationes. Hec quidem enim sunt ipsorum
gregalia hec autem solitaria, et gressiva et volatilia et natatilia, hec autem utroque participant.
[...] homo autem utroque participat. Politica autem sunt quorum unum aliquid et commune fit
opus; cpiod quidem non omnia faciunt gregalia; est autem tale homo, apis, vespa, formt ca, grus. Et
horum hec quidem sub duce sunt hec autem sine principe, puta grues quidem et apium genus sub
duce; formice autem et alia myria sine principe. Arist. hist. 1,1, 487b33-488al2,1. 99-111 (Trans-
latio Morbeka). Eigene Übersetzung. Zur Deutung s. auch Höffe, Aristoteles, S. 244.
60 Arist. polit. 1,2,1253a, 1. 21-32: „Daraus geht nun klar hervor, daß der Staat zu den Dingen zu zäh-
len ist, die von Natur sind, und daß der Mensch nach (der Bestimmung) der Natur ein Lebewesen
ist, das zum staatlichen Verband gehört [...] Daß aber die Beziehung „zu einem Staate gehörend“
eher für den Menschen als für jede Biene und jedes Herdentier zutrifft, ist klar. Denn die Natur
schafft, wie wir sagen, nichts ohne Zweck.“ Grundlegend dazu: Höffe, Aristoteles’ Politische An-
thropologie.
61 S. dazu ausführlich Berrens, Soziale Insekten, S. 38-66, mit dem Vorschlag der Typologisierung
als „soziale Insekten“.
62 S. mit Bezug auf monastische Gemeinschaftsformen beispielsweise Schneidmüller, Enduring
Coherence, Melville, „Singularitas“, Lutter, Geistliche Gemeinschaften, Dücker, Vorstellungen
von Gemeinschaft oder Vanderputten, Communities of Practice. S. außerdem Blockmans, Const-
ructing a sense. Grundlegend mit einer sozialphilosophischen Verortung: Schneidereit, Dialektik.
II. Das Werk
sich teilweise unter einem Anführer, teilweise sind sie ohne Anführer. Der Kranich
und die Gattung der Bienen leben beispielsweise unter einem Anführer, die Ameisen
und unzählige andere dagegen leben ohne Anführer.“59
Menschen und Tiere, genauer: Bienen, Wespen, Ameisen und Kraniche, stehen
hier ebenbürtig nebeneinander, weil ihre Lebensform sich durch die Qualität des
Gemeinwirkens vor derjenigen anderer Lebewesen auszeichnet. Erst in Aristoteles’
„Politik“ erhält dieser Vergleich eine zusätzliche Differenzierung, als Aristoteles
dem Menschen nämlich zuspricht, „mehr“ im Sinne von „auf vollkommenere Weise“
als etwa die Bienen ein Herdentier zu sein.60 Aristoteles’ Klassifizierung der Lebewe-
sen basiert folglich nicht auf biologischen, sondern sozialen Kriterien. Dabei ist ent-
scheidend, dass es nicht nur um das Zusammenleben verschiedener Geschöpfe geht.
Vielmehr werden die Form und mithin auch die Güte dieses Zusammenlebens in den
Blick genommen, denn erst das „Miteinander“ macht Aristoteles zufolge den Unter-
schied zu einem einfachen „Nebeneinander“ aus.61
Mit dieser Differenzierung ist eine wichtige methodische Debatte angesprochen,
die in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Forschung auch mit Blick auf das Mit-
telalter geführt wird: Was bedeutet „Gemeinschaft“? Wie entstehen Gemeinschaf-
ten? Was zeichnet sie aus?62 Bei der Erörterung dieser Fragen kann eine Unterschei-
dung zwischen den Begriffen „Gruppe“ und „Gemeinschaft“ helfen. So kann man
„Gruppen“ ebenso als eine Kategorie von Akteuren verstehen (also z.B. „die Kur-
fürsten“) wie auch als eine Klassifizierungskategorie (wie z. B. eine dynastische, eine
religiöse oder eine ethnische Gruppe). Dagegen zeichnen sich Gemeinschaften durch
spezifische Formen der Zugehörigkeit aus, die sowohl symbolisch konstruiert als
auch praktisch durchgeführt werden. In klösterlichen Gemeinschaften beispielsweise
59 Sunt autem et tales differentie secundum vitas et operationes. Hec quidem enim sunt ipsorum
gregalia hec autem solitaria, et gressiva et volatilia et natatilia, hec autem utroque participant.
[...] homo autem utroque participat. Politica autem sunt quorum unum aliquid et commune fit
opus; cpiod quidem non omnia faciunt gregalia; est autem tale homo, apis, vespa, formt ca, grus. Et
horum hec quidem sub duce sunt hec autem sine principe, puta grues quidem et apium genus sub
duce; formice autem et alia myria sine principe. Arist. hist. 1,1, 487b33-488al2,1. 99-111 (Trans-
latio Morbeka). Eigene Übersetzung. Zur Deutung s. auch Höffe, Aristoteles, S. 244.
60 Arist. polit. 1,2,1253a, 1. 21-32: „Daraus geht nun klar hervor, daß der Staat zu den Dingen zu zäh-
len ist, die von Natur sind, und daß der Mensch nach (der Bestimmung) der Natur ein Lebewesen
ist, das zum staatlichen Verband gehört [...] Daß aber die Beziehung „zu einem Staate gehörend“
eher für den Menschen als für jede Biene und jedes Herdentier zutrifft, ist klar. Denn die Natur
schafft, wie wir sagen, nichts ohne Zweck.“ Grundlegend dazu: Höffe, Aristoteles’ Politische An-
thropologie.
61 S. dazu ausführlich Berrens, Soziale Insekten, S. 38-66, mit dem Vorschlag der Typologisierung
als „soziale Insekten“.
62 S. mit Bezug auf monastische Gemeinschaftsformen beispielsweise Schneidmüller, Enduring
Coherence, Melville, „Singularitas“, Lutter, Geistliche Gemeinschaften, Dücker, Vorstellungen
von Gemeinschaft oder Vanderputten, Communities of Practice. S. außerdem Blockmans, Const-
ructing a sense. Grundlegend mit einer sozialphilosophischen Verortung: Schneidereit, Dialektik.