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sprichst mit Kain: „Bin ich denn etwa meines Bruders Hüter?“ Und indem
er verneint hat, sprach er freilich die Wahrheit, weil er den Bruder, als er ihn
nicht behütete, missgünstig tötete. Hüte also auch du dich, dass du nicht in
dem, was du nicht behütest, tötest. Jedenfalls behütest du nicht, wenn du
den Sündigen nicht tadelst. Dies weiß auch Paulus, der Lehrer der Völker, 5
der seinen Schüler belehrt, indem er sagt: „Tadele“, sagt er, „flehe, ermahne
ernstlich mit aller Geduld und Lehre.“ Und er hat in allem die Geduld
gepriesen, weil David gepredigt hatte: „Es wird uns die Milde überkommen
und wir werden von ihr ergriffen werden.“ Und so hat der Stab Aarons, der
zuerst gegen die Natter gerichtet war, später Blumen und Mandelblüten 10
hervorgebracht. Daher wird im Ecclesiasticus5 gesagt: „Wer den Menschen
straft, wird später bei ihm mehr Gnade finden als der, der durch die
Liebkosungen der Sprache täuscht.“
[3] Wie aber der Nächste zu tadeln ist, lehrt der Apostel, der Folgendes sagt:
„Wenn irgendeiner von irgendeinem Vergehen in Beschlag genommen 15
wird, unterweist ihn, ihr, die ihr geistlich seid, im Geist derartiger
Sanftmütigkeit; achte du aber auf dich selbst, damit nicht auch du versucht
wirst.“ Er hat gut gesprochen, im Geist der Sanftmütigkeit. Die Schroffheit
nämlich wird Grausamkeit genannt und wenn auch irgendwann einmal die
Herzen der Furchtsamen brechen, erbittert sie dennoch, wie so häufig, die 20
Herzen fast aller. Maßvolle Sanftmütigkeit aber, auch wenn sie einmal den
schlechten Sündern Kühnheit erlaubt, macht doch bei vornehmen Seelen
den Willen zum schlechten Handeln zunichte. „Die Schwächen des Einen
sind“, wie der Philosoph sagt, „zu bessern, die des Anderen zu brechen.“ Du
wirst nicht die Hoffnung aufgeben, dass langwierig Kranke geheilt werden 25
können, wenn du gegen die Maßlosigkeit standhältst und wenn du die
Unwilligen viel zu tun und auszuhalten zwingst. Sittsam nämlich ist die
Scham: solange sie im Geist anhält, wird es irgendeinen Anlass für gute
Hoffnung geben. „Wenn ich die Fehler eines Anderen auch nicht austreibe,
5Korrekt wäre hier: im Buch der Sprüche, vgl. auch Colvl627, S. 214.
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sprichst mit Kain: „Bin ich denn etwa meines Bruders Hüter?“ Und indem
er verneint hat, sprach er freilich die Wahrheit, weil er den Bruder, als er ihn
nicht behütete, missgünstig tötete. Hüte also auch du dich, dass du nicht in
dem, was du nicht behütest, tötest. Jedenfalls behütest du nicht, wenn du
den Sündigen nicht tadelst. Dies weiß auch Paulus, der Lehrer der Völker, 5
der seinen Schüler belehrt, indem er sagt: „Tadele“, sagt er, „flehe, ermahne
ernstlich mit aller Geduld und Lehre.“ Und er hat in allem die Geduld
gepriesen, weil David gepredigt hatte: „Es wird uns die Milde überkommen
und wir werden von ihr ergriffen werden.“ Und so hat der Stab Aarons, der
zuerst gegen die Natter gerichtet war, später Blumen und Mandelblüten 10
hervorgebracht. Daher wird im Ecclesiasticus5 gesagt: „Wer den Menschen
straft, wird später bei ihm mehr Gnade finden als der, der durch die
Liebkosungen der Sprache täuscht.“
[3] Wie aber der Nächste zu tadeln ist, lehrt der Apostel, der Folgendes sagt:
„Wenn irgendeiner von irgendeinem Vergehen in Beschlag genommen 15
wird, unterweist ihn, ihr, die ihr geistlich seid, im Geist derartiger
Sanftmütigkeit; achte du aber auf dich selbst, damit nicht auch du versucht
wirst.“ Er hat gut gesprochen, im Geist der Sanftmütigkeit. Die Schroffheit
nämlich wird Grausamkeit genannt und wenn auch irgendwann einmal die
Herzen der Furchtsamen brechen, erbittert sie dennoch, wie so häufig, die 20
Herzen fast aller. Maßvolle Sanftmütigkeit aber, auch wenn sie einmal den
schlechten Sündern Kühnheit erlaubt, macht doch bei vornehmen Seelen
den Willen zum schlechten Handeln zunichte. „Die Schwächen des Einen
sind“, wie der Philosoph sagt, „zu bessern, die des Anderen zu brechen.“ Du
wirst nicht die Hoffnung aufgeben, dass langwierig Kranke geheilt werden 25
können, wenn du gegen die Maßlosigkeit standhältst und wenn du die
Unwilligen viel zu tun und auszuhalten zwingst. Sittsam nämlich ist die
Scham: solange sie im Geist anhält, wird es irgendeinen Anlass für gute
Hoffnung geben. „Wenn ich die Fehler eines Anderen auch nicht austreibe,
5Korrekt wäre hier: im Buch der Sprüche, vgl. auch Colvl627, S. 214.