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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0241
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

rigkeiten zu einem wesentlichen Teil verschwinden, aus einem tiefen Ursprung aber
in anderer Gestalt wieder erscheinen. Eine Unklarheit im Grunde der jahrhunderte-
langen Diskussion über Vernunft und Glaube, Philosophie und Theologie kann sich
aufhellen und allgemeingültig begriffen werden.
2. Begriffe von »christlicher Philosophie«
(a) Wenn Philosophie und Offenbarungsglaube im Bewußtsein des Denkens nicht ge-
trennt sind - wie bei Augustin, Anselm, Cusanus -, so kann man in historischer An-
schauung solches Denken christliche Philosophie nennen. Für uns ist es Philosophie,
in die die christliche Offenbarung als ein wesentlicher Grund hineingenommen wurde.
(b) Wenn aber Philosophie und Theologie für das Selbstbewußtsein des Denkens
grundsätzlich getrennt sind, wie zumeist seit Thomas von Aquino, dann nennen man-
che die Gestalten einer scheinbar selbständig gewordenen Philosophie, wie es die mo-
derne thomistische Philosophie geworden zu sein behauptet, doch christlich.64 Aber
eine solche »christliche Philosophie« ist keine eigentliche Philosophie mehr. Sie
stimmt in der sachlichen Haltung überein mit der heutigen »wissenschaftlichen« Phi-
losophie. Es ist nur der wesentliche Unterschied, daß der thomistische Denker seinen
Glaubensgrund in Kirche und Offenbarung hat, der moderne »wissenschaftliche« Phi-
losoph aber, unter Verlust des philosophischen Glaubens, in etwas, das mit dieser Wis-
senschaft der Philosophie nichts zu tun hat.
Die thomistische und die wissenschaftliche Philosophie stehen heute im uner-
kannten Bunde gegen eigentliche Philosophie. Beide haben das umgreifende Denken
62 der Vernunft verlassen und beschränken sich auf Verstand und Erfahrung. Sie mei-
nen ihre Sätze mit natürlichen Mitteln zu beweisen, nicht nur wie die Wissenschaften,
sondern als Wissenschaften. Sie meinen »Sachverhalte«, »Erscheinungen« - jedoch
endlos, beliebig, führungslos - zu erforschen und treffen sich auf einem gemeinsamen,
weder wissenschaftlichen noch philosophischen Boden des vermeintlich philosophi-
schen Handwerks, in gemeinsamer Gegnerschaft gegen die Philosophie selber.
Der große Unterschied aber bleibt zwischen der christlichen, glaubenden und der
bloß wissenschaftlichen, glaubenslosen Philosophie. Die christliche ist ausdrücklich
abhängig. Sie will grundsätzlich nie in Gegensatz zum formulierten Glauben der Kir-
che treten, unterwirft sich, wo ein Konflikt auftritt, behauptet aber, daß sie kein sacri-
ficium intellectus vollziehe, da philosophische Wahrheit und Glaubenswahrheit sich,
weil beide von Gott stammen, nicht widersprechen können. Die andere, glaubenslose
Philosophie erklärt sich ausdrücklich für unabhängig, ohne ihre Zufallsabhängigkei-
ten in ihrer existentiellen Konfusion zu bemerken.
Die christliche thomistische Philosophie ist als Philosophie nicht ernst, da sie ih-
ren Ernst im kirchlichen Offenbarungsglauben hat. Die große eigentliche Philosophie
in der Unabhängigkeit, das Denken des philosophischen Glaubens aus drei Jahrtau-
senden, nennt sie Religionsersatz.
 
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