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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0163
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Vom lebendigen Geist der Universität

aus dem Bewußtsein des Mangels. Diese Wissenschaften werden armselig, wenn die
menschlichen Erfahrungen zusammenschrumpfen. Unbetroffenheit läßt das geistes-
wissenschaftliche Wissen und Forschen kollabieren. Was ist eine Theologie, wenn kein
religiöses Leben die Grundlage ist, wenn im Studium der Quellen, der Geschichte, der
dogmatischen Gehalte nicht ständig die innere Auseinandersetzung, die Aneignung
und das Abwehren geschieht! Was ist Geistesgeschichte, wenn eigene geistige Wirk-
lichkeit fehlt! Wie kann man den »Faust« noch verstehen, wenn etwa die Gretchen-
tragödie bei banaler Unbekümmertheit des eigenen sexuellen Verhaltens kein Problem
mehr ist!153 Wie überhaupt die Dichter verstehen, wenn deren Erlebnisgrundlage fremd
geworden ist! Daher ist der Ernst persönlichen Lebens Bedingung eines sinnvollen Stu-
diums.
Auch die Naturwissenschaften gedeihen nicht bei Beschränkung auf Sinneswahr-
nehmung und Verstand. Ihr Wesen ist so geistig wie das der Geisteswissenschaften.
Ein Instinkt für Mächte und Kräfte der Natur, ein visionärer Blick ermöglichen auch
hier gleichsam ein verborgenes Vorherwissen und führen zum Beachten des bis dahin
Unbeachteten, zur Entdeckung. Die großen Entwürfe naturwissenschaftlicher An-
schauung entspringen aus einer Verwandlung des Weltbewußtseins.
192 | In allen Wissenschaften also ist es die Seele des Menschen, seine Empfindlichkeit,
sein Horchen in der Stille, wodurch die Erfahrungen entstehen. Erfahrung ist nicht
einfach da. Nur soweit unser Geist lebendig ist, machen wir überhaupt Erfahrungen.
Der Grundzuggeisteswissenschaftlichen Erfahrens heißt das Verstehen. Wir verste-
hen auch das, was wir nicht selber sind. Man kann, so ist gesagt worden, Cäsar verste-
hen, ohne Cäsar zu sein.154 Kann man es wirklich? Das ist das Rätsel geisteswissen-
schaftlicher Forschung: das Verstehen trifft einerseits in dem verstandenen Menschen
etwas, was diesem gar nicht bewußt war; hat Cäsar etwa sich selbst verstanden, ist er
sich selbst durchsichtig gewesen? Und andererseits verändert das Verstehen den Ver-
stehenden in seinem geistigen Leben, das dadurch in sich Voraussetzungen zu neuem
Verstehen gewinnt. Er tritt ein in die grenzenlose Bewegung des Hellwerdens, vollzo-
gen am Stoff der Geschichte.
Es ist das Bild vor allem deutscher Denker, daß sie in der Verborgenheit ihrer Stu-
dierstube dem Weltgeist durch die Jahrtausende ergriffen zusahen und Visionen gei-
stiger Wirklichkeit hatten - in einem wunderlichen Mißverhältnis zu ihrer eigenen
Wirklichkeit. In welch großartiger Tiefe hat Hegel, haben Ranke,155 Burckhardt,156
Dilthey verstanden! Unter Erlöschen ihrer selbst wirkte in ihnen der lebendige Geist
als Verstehen. Aber wie ist das möglich?
Ich sagte, es sei für die Erfahrungsgrundlagen der Geisteswissenschaften gleichgül-
tig, ob sie in aktiver Teilnahme oder schmerzvoller Entbehrung gewonnen würden. In
der Tat kann das Verstehen so gut aus dem Bewußtsein des Mangels erfolgen, wie aus
selbsterlebter Fülle heraus. Ja, vielleicht ist die Erkenntnis gesteigert gerade aus dem
T93 Mangel des Menschen, der in | sich die Möglichkeit birgt. Dieses Bewußtsein ist schöp-
 
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