Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]
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Praktisch sehen wir den Ursprung wirksam in der Urteilskraft der seltenen Män-
ner, die, aus diesem Raum her denkend, für das Konkrete der Universitätsstruktur die
einfachen Grundlinien erfassen, vorschlagen und verwirklichen. Das hat Wilhelm von
Humboldt in seinen Denkschriften und Verwaltungsakten bei der Begründung der
Universität Berlin getan.369
Voraussetzung allen wesentlichen Tuns an der Universität durch die Forschenden,
Lehrenden, Lernenden (und der einzelnen reformierenden Professoren und Staats-
männer) ist diese von anderswoher kommende Idee der Wahrheit selber. Sie allein gibt
den Ernst. Sie allein gibt den Maßstab, der nicht ein verstandesmäßig festgesetzter Be-
griff ist, sondern in dem Bewegung liegt, die jeden Sinn von Wahrsein ergreift.
Mancher junge Mensch, der zur Universität kommt, betritt wohl zuerst, be-
schwingt von dem Enthusiasmus der Vernunft, von der Macht der Wahrheit, von
der Idee, die er ahnt, schon die Gebäude der Universität in einer ihn über den Dunst-
kreis des Alltäglichen hinaushebenden Stimmung. Zumal dort, wo der geschicht-
liche Grund mit sichtbaren Bauten und Zeichen gegenwärtig ist, hat er wohl das in
seiner Nüchternheit verborgene Bewußtsein, in einen gleichsam heiligen Raum ein-
zutreten. In diesem erwartet er die Sprache der Wahrheit zu hören, die aus allen Zei-
ten von den Griechen her und in der großartigen Weise der modernen Wissenschaf-
ten zu ihm dringt.370
Mag die Realität anders als diese Schilderung aussehen, mag die Universität als eine
nützliche, zum Erwerb von Berechtigungen durch Examina erstrebte Schule erschei-
nen, mag sie höchst unheilig, betriebsam, zerstreuend und durch ein Gestrüpp unbe-
quemer Formalitäten lästig sein - diese Realitäten lassen sich nicht leugnen. Aber nur
die, die unvorbereitet und nicht entflammt vom Funken der Wahrheit sind, sehen
14 nichts als nur | dies. Die Anderen treten ein mit der Erwartung jener höheren Autori-
tät. Sie lassen sich nicht täuschen durch den sich aufdrängenden realen Vordergrund.
Sie finden, was sie suchen, durch ihr eigenes Tun, durch die Weise ihres Studierens,
durch die Fülle der sich ihnen darbietenden Mittel. Vielleicht sehen sie es hier und da
in Professoren, deren Dasein, Forschung, Einsicht, Sprache sie anzieht und ihnen be-
stätigt, was sie suchen. Wenn sie es aber nicht wiedererkennen, so hat es doch sein Le-
ben dadurch, daß sie es selbständig von neuem hervorbringen. Und sie werden die Pro-
fessoren, ohne sie viel zu schelten, schweigend anblicken mit der Forderung: rettet die
Idee eures Wesens, daß ihr Vorbild für uns sein könnt.
Das ist die Stärke dieses Ursprungs: er ist da, wenn der Funke gezündet hat, und ist
dann untilgbar. Das ist seine Schwäche: wo er gar nicht da ist, ist er durch nichts zu
machen. Aber er ist im Menschen als Menschen verborgen, bereit zu entflammen, und
bei viel mehr Menschen, als gemeinhin angenommen wird. In der Atmosphäre wirk-
lichen Geistes kommt er zur Leuchtkraft. Daß dies so ist, ist der Glaube an den Men-
schen. Ohne solchen Glauben müßte man aufhören, der Universität, damit aber auch
der Wahrheit und Freiheit, eine Chance zu geben.
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Praktisch sehen wir den Ursprung wirksam in der Urteilskraft der seltenen Män-
ner, die, aus diesem Raum her denkend, für das Konkrete der Universitätsstruktur die
einfachen Grundlinien erfassen, vorschlagen und verwirklichen. Das hat Wilhelm von
Humboldt in seinen Denkschriften und Verwaltungsakten bei der Begründung der
Universität Berlin getan.369
Voraussetzung allen wesentlichen Tuns an der Universität durch die Forschenden,
Lehrenden, Lernenden (und der einzelnen reformierenden Professoren und Staats-
männer) ist diese von anderswoher kommende Idee der Wahrheit selber. Sie allein gibt
den Ernst. Sie allein gibt den Maßstab, der nicht ein verstandesmäßig festgesetzter Be-
griff ist, sondern in dem Bewegung liegt, die jeden Sinn von Wahrsein ergreift.
Mancher junge Mensch, der zur Universität kommt, betritt wohl zuerst, be-
schwingt von dem Enthusiasmus der Vernunft, von der Macht der Wahrheit, von
der Idee, die er ahnt, schon die Gebäude der Universität in einer ihn über den Dunst-
kreis des Alltäglichen hinaushebenden Stimmung. Zumal dort, wo der geschicht-
liche Grund mit sichtbaren Bauten und Zeichen gegenwärtig ist, hat er wohl das in
seiner Nüchternheit verborgene Bewußtsein, in einen gleichsam heiligen Raum ein-
zutreten. In diesem erwartet er die Sprache der Wahrheit zu hören, die aus allen Zei-
ten von den Griechen her und in der großartigen Weise der modernen Wissenschaf-
ten zu ihm dringt.370
Mag die Realität anders als diese Schilderung aussehen, mag die Universität als eine
nützliche, zum Erwerb von Berechtigungen durch Examina erstrebte Schule erschei-
nen, mag sie höchst unheilig, betriebsam, zerstreuend und durch ein Gestrüpp unbe-
quemer Formalitäten lästig sein - diese Realitäten lassen sich nicht leugnen. Aber nur
die, die unvorbereitet und nicht entflammt vom Funken der Wahrheit sind, sehen
14 nichts als nur | dies. Die Anderen treten ein mit der Erwartung jener höheren Autori-
tät. Sie lassen sich nicht täuschen durch den sich aufdrängenden realen Vordergrund.
Sie finden, was sie suchen, durch ihr eigenes Tun, durch die Weise ihres Studierens,
durch die Fülle der sich ihnen darbietenden Mittel. Vielleicht sehen sie es hier und da
in Professoren, deren Dasein, Forschung, Einsicht, Sprache sie anzieht und ihnen be-
stätigt, was sie suchen. Wenn sie es aber nicht wiedererkennen, so hat es doch sein Le-
ben dadurch, daß sie es selbständig von neuem hervorbringen. Und sie werden die Pro-
fessoren, ohne sie viel zu schelten, schweigend anblicken mit der Forderung: rettet die
Idee eures Wesens, daß ihr Vorbild für uns sein könnt.
Das ist die Stärke dieses Ursprungs: er ist da, wenn der Funke gezündet hat, und ist
dann untilgbar. Das ist seine Schwäche: wo er gar nicht da ist, ist er durch nichts zu
machen. Aber er ist im Menschen als Menschen verborgen, bereit zu entflammen, und
bei viel mehr Menschen, als gemeinhin angenommen wird. In der Atmosphäre wirk-
lichen Geistes kommt er zur Leuchtkraft. Daß dies so ist, ist der Glaube an den Men-
schen. Ohne solchen Glauben müßte man aufhören, der Universität, damit aber auch
der Wahrheit und Freiheit, eine Chance zu geben.