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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0351
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276 Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]
nens, als Bewegung der Vernunft, die mit jedem ihrer Schritte den Verstand benutzt,
aber ihn übergreift.
Mit den drei, durch ihren Sinn aneinander gebundenen Schritten (der neuen Wis-
senschaft, der neuen Aktivität, der Befreiung von aller Ontologie zum Eintritt in einen
19 offenen, unendlichen Raum) ist nun aber keine neue dogmatische Festlegung, | kein
neues vereinendes System verbunden. Eine neue Lehre vom Sein (eine verwandelte On-
tologie) ist in Wahrheit unmöglich geworden, ein Entwurf der Weisen des Umgreifen-
den, worin wir uns finden (eine Periechontologie muß selber in der Schwebe bleiben).372
Das Neue kann ebenso gut aussehen als sich ständig steigernde Auflösung wie als
Hervorbrechen der Wahrheit im Ganzen. Ein Zeichen unserer geistigen Situation ist:
Es gibt kein gültiges Weltbild31 mehr. Damit sind wir in das erste Zeitalter der Befrei-
ung von Weltbildern überhaupt getreten.338 Es ist gefährlich für unsere Existenz, in sol-
cher Bodenlosigkeit leben zu sollen. Aber es ist doch einzig großartig und eine uner-
hörte Chance für den Menschen, der nun auf ganz andere Weise als im wohnlich
bergenden Gehäuse36 eines Weltganzen seinen Boden gewinnen muß.373
Solche Schilderung des Gewordenen darf nun nicht beanspruchen, einen ge-
schichtlichen Prozeß zu zeigen, in dem unser Standort und unsere Aufgabe eindeutig
bestimmt seien. Was sehen wir heute? Dogmatismus in Theologie und Philosophie be-
stehen fort, aber in einem Raum uneingeschränkter Infragestellung durch andere. Was
früher war, ist auch heute noch, aber ohne daß es Herrschaft im Ganzen besitzt. Der
existentielle Ursprung von einst ist nicht mehr in gleicher Weise wirksam, aber viel-
leicht hat ein neuer Ursprung von dort her angeeignet, was ihm gemäß ist.
Das von uns geschilderte für Alles sich öffnende Denken, von ontologischen Fes-
seln befreit, wird sogar alte und neue Ontologien nicht vernichten, sondern hören
wollen. Alles soll zeigen, ob es Leben und Lebenskraft hat, und, unvoraussehbar, ver-
gessene Wahrheit wieder aneignet, neue, nicht vorweg für ausgeschlossen erklärte
Wahrheit gewinnt.
Die in Jahrhunderten erwachsene geistige Verfassung, in der Wahrheit sich auf viel-
fache Weise zeigt, ist heute noch keineswegs allgemein anerkannt und gewollt. Man
sieht heute noch mehr die Verwirrung im Ganzen. Es gibt nicht einfach die Wahrheit
und die Wissenschaft, sondern die Wirklichkeit des menschlichen Kämpfens um
Wahrheit und Wissenschaft. Nirgends ist eine allgemeingültige Instanz für das Ganze,
außer in den Wirkungen des Kampfes selber.
20 | So gibt es den faktischen Consensus in den durch Wissenschaften im Partikula-
ren gewonnenen, methodischen und zwingenden Gegenstandserkenntnissen. Dieser
Consensus ist eine außerordentliche Tatsache unseres denkenden Daseins: er ist nicht
die Erscheinung einer Autorität (denn jeder Verstehende sieht ein, aber gehorcht
nicht). Diese Tatsache eines Consensus betrifft jedoch nicht die Wahrheit im Ganzen,
ist nicht das letzte Kriterium aller Wahrheit (denn er gilt nur für die spezifischen Rich-
tigkeiten moderner Wissenschaften).
 
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