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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0371
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Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]

4. Nutzen und Selbstzweck der Wissenschaft
Seit Bacon209 und Descartes hat man den Sinn der Wissenschaft durch ihre Nützlich-
keit zu rechtfertigen versucht. Die technische Anwendbarkeit des Wissens zur Erleich-
terung der Arbeit, zur besseren Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, zur Stei-
gerung der Gesundheit, zur Einrichtung staatlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse,
schließlich gar zur Erfindung der richtigen Moral galten für Descartes als entschei-
dende Antriebe zur Wissenschaft.210 Jedoch zeigt sich bei näherer Vergegenwärtigung
erstens, daß alle technische Anwendbarkeit Grenzen hat; die Technisierbarkeit ist nur
ein Feld innerhalb des viel umfassenderen Bereiches der menschlichen Möglichkeiten
überhaupt. Zweitens zeigt sich, daß die unmittelbare Nützlichkeit der Wissenschaft
keineswegs der Antrieb bei den großen begründenden Entdeckungen gewesen ist; sie
wurden, fern dem Gedanken der Anwendbarkeit, aus unvoraussehbaren Quellen des
forschenden Geistes gewonnen. Die fruchtbare Anwendung in besonderen Erfindun-
gen ist daher zweckhaft erst möglich auf Grund der schon vorhandenen Wissenschaft.
Forschungsgeist und zweckhafter Erfindungsgeist sind wesensverschieden. Es wäre
zwar absurd, den Nutzen der Wissenschaft und das Recht des Betriebes der Wissen-
schaft im Dienst der Lebenszwecke bestreiten zu wollen; auch dieser Sinn kommt der
Wissenschaft, wenigstens einigen Teilen der Wissenschaft, zu. Aber er kann nicht der
ganze und nicht der einzige Sinn der Wissenschaft sein; denn er allein hat die Wissen-
schaft nicht hervorgebracht (die großen Entdecker waren durchweg keine Erfinder)
und allein würde er außerstande sein, die wissenschaftliche Forschung auf die Dauer
am Leben zu erhalten.
47 | Im Gegenschlag gegen diese Subalternisierung der Wissenschaft durch Unterord-
nung unter die Zwecke der Technik und Lebenspraxis ist daher die Wissenschaft als
Selbstzweck behauptet worden:211 als das Recht der Ursprünglichkeit des Wissenwollens.
Nicht ursprünglich ist ein Wissenwollen, weil das Wissen brauchbar ist (dann ist die
Forderung, unter deren Bedingung das Wissen allein interessiert: daß man damit et-
was anfangen könne). Nicht ursprünglich ist auch das Wissen als Element eines Bil-
dungsideals (dann ist es ein Bestandteil der Ausbildung aller menschlichen Kräfte und
Mittel der reibungslosen Kommunikation einer gleichartig gebildeten Gesellschaft;
hier steht das Wissen unter der Bedingung von Maß und Form und unter der Bedin-
gung der Menschenprägung nach diesem gültigen Ideal). Ursprünglicher schon ist die
Neugier: das primitive Sehenwollen des Fremden, Unbekannten, das Hörenwollen von
Erfahrungen und Ergebnissen. Aber Neugier berührt nur, ergreift nicht die Dinge. Der
Reiz der Sensation bringt schnelle Ermüdung. Erst nach der Umsetzung zu methodi-
schem Fortschreiten kann die Neugier ein Element des Erkennens werden. Dieses in
seiner Ursprünglichkeit fragt dann nicht mehr, warum es will. Es kann seinen eigenen
Sinn nicht zureichend begründen. Es ist der Mensch, der nur zu sein glaubt, sofern er
weiß; der den Versuch macht, was wird, wenn er weiß; der die Gefahr läuft, weil, was
 
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