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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0057
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Heimweh und Verbrechen

Von »glaubwürdigen Leuten« hat er zwei Fälle erfahren, die ihm neben anderen
Reminiszenzen die Erfahrungsgrundlage für seine Arbeit abgeben.
Ein junger Student aus Bern erkrankte in Basel, fieberte, bekam Angstzustände, schwere Sym-
ptome traten hinzu und man erwartete schon seinen Tod, als der Apotheker, der auf Vorschrift
des Arztes ein Klysma geben wollte, den Zustand erkannte, ihn für Heimweh erklärte und
behauptete, es gebe kein anderes Mittel als die Rückkehr in die Heimat. Zusehends besserte sich
4 der Mann, war auf dem Wege ganz wohl und kam gesund in Bern an. | Der zweite Fall betrifft
ein junges Mädchen, das krank ins Spital gebracht auf alle Fragen, alle Heilversuche immer nur
die Worte hervorbrachte »ich will heim, ich will heim«. Zu Hause genas es in wenigen Tagen
ohne Anwendung von Heilmitteln.2-*
Hofer bemerkt, daß vor allem junge Leute von der Nostalgie ergriffen würden,
besonders solche, welche zu Hause nur mit sich lebten, niemals unter Menschen gin-
gen. Solche können sich, wenn sie von Hause fortkommen, nicht an die fremden Sit-
ten gewöhnen. Sie können die heimatliche Milch nicht entbehren, sehnen sich Tag
und Nacht nach Hause und, wenn ihr Wunsch nicht erfüllt wird, werden sie krank.
Durch vorausgehende andere Krankheiten, veränderte Lebensweise, Änderung der
Luft und fremde Gebräuche wird der Ausbruch der Nostalgie befördert. Als Zeichen,
die ihren Eintritt befürchten lassen, nennt er: Abneigung gegen die fremden Sitten,
Neigung zur Melancholie aus Anlage, große Aufregung über kleine Scherze und Späße,
die man mit ihnen macht, Fernbleiben von den fremden Vergnügungen. Symptome
der ausgebrochenen Nostalgie sind: dauernde Traurigkeit, alleiniges Denken an die
Heimat, gestörter Schlaf oder dauerndes Wachen, Abnahme der Kräfte, Verminderung
des Appetits und des Durstes, Angstgefühle, Herzpalpitationen, beschleunigte Atmung,
Stupor,25 kontinuierliches und intermittierendes Fieber.
Interessant sind die Vorstellungen, die Hofer über Ätiologie,26 Pathogenese27 und
Sitz des Heimwehs entwickelt. Als Sitz betrachtet er den innersten Teil des Gehirns, der
aus unzähligen Nervenfibrillen besteht, in denen die Lebensgeister (spiritus anima-
les28) beständig auf- und abwogen. Das Wesen der Krankheit besteht in einer gestörten
Einbildungskraft, wobei die Lebensgeister nur einen Weg durch den Streifenhügel
wandeln, in dem die Idee des Vaterlandes ihren Sitz hat, und so in der Seele nur diese
Idee wachrufen. Dadurch werden sie endlich ermüdet, erschöpft, verwirrt, und bewe-
gen sich ungeschickt, so daß sie verschiedene Phantasmen hervorrufen. Dies fast
beständige Erzittern (vibratio) der Lebensgeister in den Fasern des Hirnmarks, in denen
die Spuren der Vaterlandsideen eingeprägt sind, hat zur Folge, daß sie von anderen
Dingen nicht mehr bewegt werden, oder daß, wenn es einmal geschieht, die mit den
Gedanken ans Vaterland beschäftigte Seele keine Acht darauf hat. Die Symptome der
Nostalgie entstehen, weil die gebundenen Lebensgeister nicht mehr in die anderen
Teile des Hirns gelangen und deren natürliche Funktionen unterstützen können. Der
Appetit wird nicht mehr wachgerufen, der Magensaft verliert an Lösungsvermögen
für die Speisen, der Chymus29 tritt in roherem Zustande ins Blut, in dem dicklichen
 
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