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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0061
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Heimweh und Verbrechen

beim Wahnsinn, der Körper wie eine Uhr gleichsam suspendiert ist, um nachher wie-
der in Gang zu kommen. Blumenbach bemerkt, daß Schweizer auch im Herzen der
Schweiz das Heimweh bekommen. Schließlich erzählt er einige oft wiederholte
Geschichten:
Eine Anzahl Entlibucher betrieb in Paris eine Sennerei. Als diese Arbeit aufhörte, verfielen sie in
Heimweh. Ähnlich ging es Lappen mit Renntieren in Madrid. Als die Tiere tot waren, erkrankten
sie. Grönländer sollen 1636 in Kopenhagen in verzweiflungsvoller Sehnsucht nach der Heimat mit
Kajaks nach Amerika gefahren sein, wobei die meisten umkamen. Die Zurückgebliebenen starben
an Nostalgie.69
Nordländer und Schweizer sind für diese Erkrankung bevorzugt. Als Ursache sei die
Gewöhnung an großartige Natureindrücke und die Simplizität der Sitten anzusehen.
Nach Blumenbach erscheint noch ein Artikel von Diez in der deutschen Enzyklo-
pädie 1790.70 Dieser lehnt sich an Auenbrugger an, meint aber, daß die Schweizer
ganz besonders häufig befallen würden. Dies schiebe Haller auf die Staatsverfassung
und die Gewohnheit, nur unter sich zu verkehren und zu heiraten. In Ersch und
Grubers allgemeiner Enzyklopädie (1828) werden im Artikel »Heimweh«71 alte Auffas-
sungen wiederholt, und dazu erzählt, daß 1813 bei der Belagerung von Mainz eine
Typhusepidemie in Verbindung mit Heimweh gehaust habe und durch letzteres
beträchtlich verschlimmert sei.
Außer diesen kurzen Artikeln bringen in Deutschland die Jahrzehnte nach
Blumenbach keine Heimwehschriften. In Frankreich dagegen beginnt jetzt die Reihe
vieler Dissertationen über diesen Gegenstand. Die Mehrzahl derselben sind nicht zugäng-
8 lieh. Der Vollständigkeit wegen sind sie im | Literaturverzeichnis zusammengestellt.17 Erst
1821 erschien von dem bekannten Arzte Napoleons, Larrey,72 eine vielgenannte Arbeit
»Über den Sitz und die Folgen der Heimwehkrankheit«, die durch zweimalige Überset-
zung ins Deutsche auch hier das Thema Nostalgie wieder in Fluß brachte.73
Larrey hatte auf mehreren Feldzügen Napoleons, besonders auf dem russischen,
seine Erfahrungen gesammelt. Aus seinen Krankengeschichten tritt uns ein schwacher
Reflex der gewaltigen Leiden entgegen, denen damals zahllose Menschen zum Opfer
fielen. Larrey behauptet, wie bei allen Irren, so wichen auch bei den Heimwehkran-
ken zuerst die Geistesverrichtungen, dann die der Sinne und der willkürlichen Bewe-
gung von der Regel ab. Auf der Höhe der Geistesverwirrung sehen die Kranken aus der
Ferne lachende und entzückende Gemälde an dem Orte ihrer Heimat, wie rauh und
öde diese in der Tat auch sein möge. Nach ihrer Aussage kommen ihre Verwandten und
Freunde ihnen in reichen Kleidern und mit den freundlichsten Gebärden entgegen.
Der Ablauf der Krankheit soll in drei Stadien vor sich gehen. 1. Stadium: Aufregung, Stei-
gerung der Wärme auf dem Kopfe, gehobener Pulsschlag, regellose Bewegungen, Röte
der Bindehaut, unsteter Blick, hastiges und nachlässiges Sprechen, Gähnen, Seufzen,
Verstopfung, herumziehender Schmerz. 2. Stadium: Druck und Gefühl von Zwang in
 
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