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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0138
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Heimweh und Verbrechen 95
und die | Scheu ausgelacht zu werden, wenn ohne Grund der Dienst nach kurzer Zeit
aufgegeben wird, spielt da eine Rolle. Manchmal wird an die Ausführung der krimi-
nellen Tat geschritten, noch bevor alle rechtlichen Mittel erschöpft sind, meistens aber
ist das geschehen.
Hat uns die Betrachtung des Heimwehs nun ein Verständnis für die rätselvollen
Verbrechen, die aus ihm entstehen, verschafft? Ein einheitliches kaum. Wir verstehen
bei Schwachsinnigen oder bei unreifen Kindern, daß der Wunsch, aus dem Dienst zu
kommen, sei es mit oder ohne Heimweh, den Gedankengang weckt: »Wenn das Haus
abbrennt, wenn das Kind tot ist, bin ich überflüssig, dann kann ich fort« und daß dies
zum Motiv der verbrecherischen Tat wird. Wir können auch annehmen, daß solche
Gedanken bei den meisten Fällen eine Rolle spielen, in einigen (Krebs) haben wir kei-
nen Anhaltspunkt dafür. Soweit dagegen überhaupt genauere Beschreibungen über
Motivierung der Tat und die letzten psychischen Vorgänge vor ihr gegeben sind, fin-
den wir, daß die Handlungen recht verschiedener Art sind, und daß das Heimweh wohl
einen geeigneten Boden abgeben muß, mannigfaltige Willensprozesse zur Entstehung
zu bringen. Um es gleich vorweg zu nehmen, sehen wir sowohl impulsive, wie den
Zwangshandlungen ähnliche Vorgänge, in Angst und Übergang zu Bewußtseins-
trübungen vollführte Akte und planmäßige Gewalttaten.
Daß die Mannigfaltigkeit herrscht, erscheint ganz begreiflich. Spitta sagt: »Wem
nur einmal die Qual des Heimwehes zur eigenen Empfindung geworden, wem es erin-
nerlich geblieben ist, in welcher Verwirrung Sinne und Gedanken schweiften, halb
wache Träume den Tag wie die Nacht erfüllten, der kann es bezeugen, ob die gelähmte
Kraft des Willens, zumal des ungeübten kindlichen, und das Licht der schwachen Ver-
nunft dem Drange ungezügelt wogender instinktartig zwingender Gefühle nur irgend
einen Damm entgegenzusetzen vermochte. Da ist alles Sinnestäuschung, alles zurück-
gedrängte verhüllte Leidenschaftlichkeit. Nach einem Ziel nur ringt die geistige und
leibliche Natur, nach der alten süßen Gewohnheit des Zusammenseins mit den hei-
matlichen Personen und Gegenständen.«284 Daß in dieser depressiven Ratlosigkeit die
psychologisch verschiedenartigsten Handlungen vorkommen können, läßt sich ganz
gut nachfühlen.
Kraepelin (vgl. Wilmanns) soll die Verbrechen junger heimwehkranker Mädchen
für den Ausfluß eines impulsiven Irreseins halten, das mit dem Wunsche nach Verän-
derung der gegenwärtigen Lage, zuweilen mit einem dunklen Heimwehgefühl einher-
gehe. Die Existenz solcher Fälle ist durchaus möglich. Wir haben oben einen Fall von
Angstzustand berichtet, bei dem wahrscheinlich jede heimwehartige Färbung sogar
fehlte. Doch trifft für die typischen Fälle diese Auffassung wohl kaum zu. Zunächst ist
zu bemerken, daß impulsives Irresein als Krankheitsbild wohl aufgegeben ist (vgl.
Förster und Aschaffenburg, Centralblatt f. Nervenheilk. und Psychiatrie 1908,
S. 350 ff.). Es kann sich nur um eine symptomatische Bezeichnung »impulsives Han-
deln aus einer Verstimmung heraus«285 handeln. Wenn Kraepelin bei diesen Verstim-

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