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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0291
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

und war auch sehr aufgeregt. Ich glaube, ich hatte für kaum etwas anderes Interesse an diesem
Tag. Ich weiß auch nicht, ob wir den beabsichtigten Ausflug machten. Am nächsten Tage ka-
men neue Nachrichten, die ganze Zeitung stand voll. Schwarze Bänder an Fahnen, auf Halb-
mast, umflorte Bilder, Büsten in den Erkern, Holzcliches in den Zeitungen, Photographien bei
den Kunsthändlern. Am Abend des zweiten Tages, an dem auch beständig von dem Ereignis ge-
sprochen wurde - alle Menschen sprachen davon -, wurde es mir, als ich im Eßzimmer allein in
der Dämmerung saß, ängstlich. Ich sah nämlich an der großen Doppeltür, die etwas zurücktrat
gegen die Wand, etwa zwei Schwellenbreiten vor der Tür eine Erscheinung, die den König Lud-
wig vorstellte. Sie war wie eine überlebensgroße Büste, schwebte in der Luft, stand aber ganz still.
209 Sie war grauschwarz wie ein Zeitungscliche, | aber körperlich wie eine Gipsbüste, im Umriß war
sie scharf, die Züge waren trübe, ich sah die Stelle, wo die Augen waren; sie waren hohl, aber
nicht so wie bei einer Büste, sondern dunkel, verschwommen, ohne Blick. Ich mußte immer da-
hin sehen, so ängstlich es mir auch wurde. Ich versuchte wegzusehen, zu lesen, Schulaufgaben
zu machen, dann sah ich auch die Erscheinung nicht, z.B. wenn ich nach der anderen Wand
sah, wo die Sixtinische Madonna542 hing, oder nach den Familienbildern, oder über das Klavier,
wo nichts hing. Nur an der Tür war die Erscheinung. Ich traute mich nicht hinzusehen und auch
nicht das Zimmer zu verlassen. Aber ich wußte von Anfang an genau, daß da nichts war, obwohl
es so vor mir in der Luft stand, daß ich hätte meinen können, es wäre wirklich etwas da. Wenn
ich den Kopf bewegte, blieb die Erscheinung still stehen, blickte ich weg, so sah ich sie nicht,
sah ich wieder hin, so war sie wieder da. Ich konnte die Erscheinung niemals willkürlich her-
vorrufen, sie hat sich auch nicht, soweit ich mich erinnere, verändert. Als Licht gemacht wurde,
sah ich sie nicht, aber ich mußte immer an die Tür sehen und tat es verstohlen. Ich sagte nichts,
weil ich fürchtete, man würde mich auslachen oder mich zu etwas Unangenehmem zwingen,
z.B. mich dahin zu stellen, wo ich die Erscheinung sah. Im Hellen ging ich auch selbst hin und
sah dort bei Tag nichts. Abends kam es wieder gerade so deutlich und mit genau demselben Ver-
halten und an derselben Stelle. Ich war einige Tage ängstlich; wenn ich mich recht erinnere, hat
die Aufregung erst nachgelassen, als die Erscheinung vorbei war. Das hat vielleicht 3 oder 4 Tage
gedauert. Ich habe später nie etwas Ähnliches erlebt1.«
Eine ganz analoge Beobachtung veröffentlicht Löwenfeld (Psychische Zwangserscheinun-
gen, Wiesbaden 1904, S. 204):543
Ein i4jähriges Mädchen sieht einige Zeit fast jede Nacht über ihrem Bett vor dem Einschla-
fen und beim Aufwachen eine Hand, und zwar nicht als Schattenbild, sondern deutlich körper-
lich hervortretend, überlebensgroß und mit einem Ringe versehen. Über die Entstehung dieser
anscheinend sonderbaren Halluzination wußte die Patientin anfangs nichts Näheres anzuge-
ben. Auf Befragen, ob sie nicht von etwas Ähnlichem gehört oder gelesen habe, gab sie jedoch
sofort zu, daß sie einen Roman (Die hübsche Miß Neville von Crooker)544 gelesen hatte, in wel-
chem von dem Erscheinen einer gespenstischen Hand erzählt wird. An diese mußte sie in der Folge
öfters denken, und einige Zeit später sah sie nachts die Hand. Die Halluzination verlor sich bald
wieder.
Solche Beobachtungen sind durchaus nicht isoliert, sondern lassen sich aus der Literatur in
größerer Zahl zusammensuchen. Ganz besonders aber in akuten Psychosen und abnormen

Der Einwand, hier handle es sich um Erinnerungs fälschungen, ist nicht in beweisender Form abzu-
lehnen, aber bei der Analogie dieses Erlebnisses zu anderen, die bekannt sind, nicht sehr bedenk-
lich.
 
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