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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0354
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Die Trugwahrnehmungen

3ii
Bevor die Pseudohalluzinationen begrifflich genauer charakterisiert werden, mag
als anschauliche Grundlage ein Beispiel aus Kandinsky Platz finden (S. 44 ff.)':622
»Am 18. August 1882 nimmt Dolinin des Abends 25 Tropfen tincturae opii simplicis623 ein und
fährt fort am Schreibtische zu arbeiten. Eine Stunde später bemerkt er eine große Leichtigkeit im
Gange seiner Vorstellungen, sein Denken wird kräftiger und klarer als gewöhnlich. | Nachdem er 2 65
die Arbeit der aktiven Präapperzeption (gleich Apperzeption Wundts)624 unterbrochen hat, beob-
achtet er (bei keineswegs umnebeltem Bewußtsein und ohne die geringste Neigung zum Schlafe
oder Schlummer zu fühlen) im Verlaufe einer Stunde, mit geschlossenen Augen, äußerst verschie-
denartige und lebhafte optische Pseudohalluzinationen: Gesichter und ganze Gestalten der an
diesem Tage gesehenen Personen, Gesichter seiner alten Bekannten, die er schon längere Zeit
nicht getroffen, ganz unbekannte Persönlichkeiten; zwischen denselben erscheinen von Zeit zu
Zeit weiße, mit verschiedener Schrift bedruckte625 Seiten, außerdem taucht zu wiederholten Malen
das Bild einer gelben Rose hervor; endlich - ganze Bilder, die aus mehreren verschiedenartig kostü-
mierten Personen in den mannigfaltigsten gegenseitigen Stellungen (aber immer ohne Bewegung)
bestehen. Diese Bilder erscheinen für einen Augenblick und verschwinden, von neuen Bildern
(die zu den frühem in gar keiner logischen Beziehung stehen) sogleich gefolgt. Sie werden scharf
nach außen projiziert626 und scheinen auf diese Weise vor62? den Augen zu stehen, sind aber
zugleich in gar keinem Verhältnis zum schwarzen Sehfeld der geschlossenen Augen: um die Bil-
der zu sehen, muß man die Aufmerksamkeit vom schwarzen Sehfelde ablenken; im Gegenteil, das
Fixieren der Aufmerksamkeit auf dieses letztere unterbricht das Erscheinen der Bilder. Trotz viel-
fachen Versuchen ist es ihm nicht gelungen, das subjektive Bild so mit dem dunkeln Gesichts-
felde zu kombinieren, daß das erstere als ein Teil des letzteren erscheinen sollte. - Ungeachtet der
scharfen Umrisse und lebhaften Farben, ungeachtet dessen, daß diese Bilder vor dem sehenden
Subjekte zu stehen scheinen, besitzen sie den Charakter der Objektivität nicht;628 für das unmit-
telbare Gefühl Dolinins scheint es, daß, obgleich er dieselben mit den Augen sehe, so ist es nicht
mit jenen äußern Augen des Leibes, die das schwarze Sehfeld mit den darauf zuweilen auftauchen-
den nebligen Lichtflecken sehen, sondern mit andern, innern Augen, die sich hinter den äußern
befinden. Die Entfernung dieser Bilder vom innern sehenden Auge ist verschieden, von o,4-6,0 m,
am häufigsten aber entspricht dieselbe der Entfernung des klaren Sehens, die in diesem Falle
wegen Kurzsichtigkeit gering ist. Die Größe der menschlichen Gestalten wechselt von der natür-
lichen Größe an bis zur Größe der Figur eines photographischen Kabinettporträts.«629 Die gün-
stigsten Entstehungsbedingungen waren folgende: »Möglichst vollständig unterbrochene will-

Über Pseudohalluzinationen ist das grundlegende Buch: Kandinsky, Kritische und klinische Be-
trachtungen im Gebiete der Sinnestäuschungen. - Den Unterschied der Pseudohalluzinationen
hat zwar Kandinsky zum erstenmal ausführlich beschrieben und von anderen Unterscheidun-
gen getrennt gehalten. Aber als solcher erkannt war der Unterschied schon vor ihm. Besonders
Baillarger hat ihn in seiner Gegenüberstellung von psychischen und psycho-1 sensoriellen Hal- 2 65
luzinationen getroffen. Schon vor Baillarger haben ihn Kirchenschriftsteller deutlich beschrie-
ben. Z.B. heißt es in einem Werke (zit. bei Baillarger S. 384) bei der Schilderung göttlicher Of-
fenbarungen: »Es gibt intellektuelle Stimmen, welche vor den Geist und in das Innere der Seele
treten, es gibt imaginative, welche vor die Einbildungskraft treten, und es gibt körperliche, wel-
che die äußeren Ohren des Körpers treffen.« - Hagens Ausdruck Pseudohalluzinationen wäre bes-
ser aufzugeben. Er bezeichnet damit alle möglichen Phänomene, z.B. auch Erinnerungsfälschun-
gen, die mit Halluzinationen verwechselt werden können.
 
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