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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0462
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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gescheit. Er habe sich hingesetzt, über das Vorgefallene nachgedacht, sich an den Kopf gefühlt
und bemerkt, das alles nichts war. Da dachte er: Du hast mal schön dummes Zeug zusammen-
gemacht. Er hörte es % schlagen. »Da war ich wieder froh, daß alles nichts war«. Er war ganz
erleichtert, habe aber geschwitzt.
Am Mittwochmorgen wurde dem Kranken eine Strafe von 30 Jahren zudiktiert, irrtümlich, als
ob er auch »Tarifbruch« begangen hätte. Dann hörte er den Befehl: der Mann wird befreit, erhält
eine Belohnung. Er soll sofort entlassen werden. Dann wieder sieht er Schutzleute, die ihn ver-
haften und ins Gefängnis bringen wollen.
An diesem Morgen ändert sich die Situation, die nun bis zum Schluß (Überführung nach Hei-
delberg am Sonnabend) beibehalten wird. Der Kranke ist auf einem Schiff. Das Schiff fährt auf
einem Kanal. Er ist in einer Zelle, durch deren Fenster er das Ufer sieht. Auf diesem Schiff spiel-
ten sich nun in einem zunehmend wirren Durcheinander und in häufigen Wiederholungen
zahllose Szenen ab, die der Kranke aufzählt: Hinrichtung, Verbrennung, Erhängen, Erdrücken,
Verhungern, Aufgefressenwerden von wilden Tieren, Verbringung auf eine Insel zu 90 Jahren
Gefängnis usw. Das heißt, dies alles geschah nicht, sondern sollte geschehen. Im einzelnen mag
noch folgendes aufgezählt werden. Schutzleute sagten: »Den schaffen wir raus und schmeißen
ihn ins Wasser, oder wir lassen ihn übers Feld laufen und schießen ihn zusammen, dann teilen
wir das Geld.« Oder »wir machen los und fahren fort und machen vorne auf, dann sinkt es« (das
Schiff). Dann beratschlagten sie, sie wollten den Kranken verhungern lassen, die Belohnung,
die dem Kranken zugedacht war, holen und teilen. - Plötzlich ging das Fenster auf, es kamen
Löwen und Tiger rein und kamen auf den Kranken zu. Als er nach ihnen griff, waren sie ver-
schwunden. - Er hörte die Schiffsmaschine gehen, merkte, wie man vor der Schleuse hielt, bis
sie geöffnet war. - Die Riegel wurden losgemacht, daß das Schiff sinken sollte. Aber es sank nicht,
weil es im Kanal nicht tief genug war. Er sah Wasser in die Zelle dringen, doch nicht viel. Der
dreiteilige Boden wurde geöffnet und er sah durch den Spalt Wasser. - Die - nach seiner Mei-
nung wirklichen, dauernd gesehenen Bäume - wurden einmal undeutlicher. Er spürte, wie das
Schiff seitwärts ging und aufs feindliche Ufer hinübergezogen wurde. Die Bäume entfernten
sich. Das eine Ufer war nämlich das »heimatliche«, das andere das »feindliche«. Hier waren
große Löcher, in die man die Menschen, die nicht geköpft werden sollten, verschwinden ließ.
In eines sollte der Kranke 25 m hinunter gelassen werden, dort wollte man ihn dann in das 82 m
tiefe Loch fallen lassen. Zwischendurch hörte er den Kapitän: »Der kriegt nichts mehr zu essen;
der kommt ins Wasser hinein; der wird geköpft; der kommt ins Loch usw.«. Seine Frau wurde
dreimal ins Wasser geworfen. Er hörte sie rufen | und schreien. Aber sie kam jedesmal wieder
ans Land. Dann wurde seine Frau in ein Loch zu Ratten geschmissen. Wieder rief sie um Hilfe.
Er antwortete, er könne nicht heraus, die Leute machten nicht auf. Aber er bat: »Wenn ihr mich
auch hineinschmeißen wollt, schmeißt mich dazu, wo sie drin ist.« - Ein anderes mal hörte er
wieder seine Frau sagen, es sei eine Depesche gekommen, er solle nicht umgebracht werden, er
habe seine 30 Jahre geschenkt bekommen. Er müsse nach Heidelberg gebracht werden.
In dem Loch wurde seine Frau nun endgültig tot und von Ratten zerfressen. Auch seine Kinder
waren getötet. Aber am nächsten Tag sah der Kranke das Gesicht seiner Frau an der Wand, sprach
mit seiner Frau, die nun als Geist erschien. Sie erzählte, der große Sohn habe die zwei Mädels ins
Wasser geworfen, zum Schluß wäre er selbst hineingeschmissen worden. Dann erklärte sie ihm,
wie er sterben solle, damit er zu ihr käme. Er müsse auch ertränkt werden. Sie hätte ihn immer noch
gern. Sie lag dann in einer gewissen Entfernung neben ihm. Es fand aber keinerlei Berührung
statt. Seine Frau klagte einmal, sie habe Hunger. Er legte ein Stück Brötchen aufs Bett. So beglei-

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