Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0463
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
420

Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

tete ihn nun dauernd seine Frau als Geist, bis zuletzt als er in die Heidelberger Klinik kam. Er
nahm sie nicht mit hinein. Sie klagte, nun sei sie verlassen, sagte: »Kennst du mich und die Kin-
der nicht mehr« und »Adieu Moritz, wir sehen uns nicht mehr« und ging fort. Er war im Augen-
blick voller Schmerz. Aber schon im Bad der Klinik hatte er »alles vergessen«. Nur daß seine Frau
wirklich gestorben sei, diese Idee begleitete ihn noch einige Tage.
Vom Moment des Eintritts in die Klinik an hat er keine Stimmen mehr gehört und nichts
mehr gesehen und erlebt. Er war außerordentlich matt und erschöpft (Gewichtsabnahme wäh-
rend der Psychose von 156 auf 138 Pfd.) und schlief fest. Er machte auch objektiv einen Eindruck,
daß man an einen erschöpften Deliranten denken mußte. Als er am Sonntag aufwachte, dachte
er wieder, seine Frau sei tot. Erst im Laufe einiger Tage wurde es ihm klar, daß alles Täuschung
gewesen sei. Bevor wir den Dauerzustand und den weiteren Verlauf beschreiben, geben wir das
relativ wenige wieder, was wir von dem nicht gebildeten und nicht sehr gut beobachtenden
Kranken über die allgemeinen psychologischen Verhältnisse in der Psychose erfahren konnten.
Im Anfang der Psychose bis zum Eintritt ins Mannheimer Krankenhaus folgte relativ lang-
sam eine Szene der anderen, dazwischen waren ziemlich lange Unterbrechungen. Dieselbe
Szene wiederholte sich nicht. Von Tag zu Tag wurde das Erleben massenhafter, schließlich »fie-
berhaft«. Der Anfang »war ein leichter« gegen die Ereignisse im Krankenhaus. Jedoch blieb der
Kranke seiner Meinung nach immer bei vollem Bewußtsein, war ganz wach, kann sich an alles
erinnern (mit Ausnahme einzelner Details, z.B. des Namens des Oberbefehlshabers der
Gebirgspartie usw.).
Im Anfang der Psychose war er ziemlich lange Zeiten zwischendurch wieder ganz frei, wie
das aus der Schilderung hervorgeht. Als dann die Erlebnisse reicher und kontinuierlicher wur-
den, gelang es ihm immer wieder, sich völlig zu orientieren und alles zu verscheuchen. Er legte
sich auf die Seite, dann waren die nackten Menschen fort. Oder er ging aus dem Bett, dann war
es fort. Wiederholt sagte er sich dann: das war Täuschung, was war das für dummes Zeug. »Zeit-
weise wußte ich nicht, wo ich war, wurde überwältigt von den Gedanken, faßte mich aber
zusammen und wußte dann wieder Bescheid.« Schließlich im Krankenhause orientierte er sich
am Wärter, sah zur Tür hinaus und fand: es ist kein Schiff, sondern das Krankenhaus. Er wun-
derte sich: das ist ein Schiff und ist doch in der Mittelstadt. Aber das waren nur kurze Momente
und er weiß überhaupt nicht, ob er die letzten Tage sich orientiert hat. »Da hats mich fest
gepackt.« »Ich wußte nicht mehr, ob Tag oder Nacht war, glaubte am Samstag, es sei schon Sonn-
tag.« Dabei erklärte er aber, er sei ganz wach gewesen und würde, wenn etwas Wirkliches an ihn
herangetreten wäre, sich haben orientieren können. »Ich habe alles gekannt, was vorkam.« Er
würde immer gewußt haben, daß wir 1912 schreiben. Als er aus dem Krankenhaus nach Heidel-
berg übergeführt wurde, wußte er gleich, was los war.
Die Art seiner Bewußtseinszustände vermag der Kranke nicht deutlich zu schildern. Er betont
das volle Wachsein, sagt aber ein anderes Mal auch wieder, daß die Orientierung in den Zwi-
schenmomenten wie ein Zusichkommen war. Es war aber, nicht, das betont er, wie wenn man
aus einem Traum aufwacht. Der Vergleich mit einem Traum scheint ihm nicht treffend: es war
alles zu wirklich, was er erlebte, und er war doch ganz wach.
Die ganze Zeit der Psychose hat er nur ganz wenig und kurz geschlafen. »Sonst hätt ich nicht so
362 viel abgenommen.« Manchmal überwältigte ihn aber doch für Momente, wie er meint, | der
Schlaf (vgl. die Schilderung, wie ihm im Schlaf das Gehirn genommen wurde). Er war ganz
außerordentlich matt, hatte zuletzt Schmerzen in den Gliedern und schlief schon zeitweise im
Wagen auf der Fahrt Mannheim-Heidelberg ein.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften