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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0492
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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schaffte er Platz. Gegen Schluß merkte er, wie die Mona Lisa von innen | her sein Augenlid hob.
Sie wollte sehen, ob er schon schlafe. Denn sein Schlaf war das Zeichen, daß alle in ihm seien. Er
schlief nicht. Es stellte sich heraus, daß zu früh abgeschlossen war. Es kam der Befehl: alles hin-
aus. Dieser Vorgang des Ein- und Auszugs wiederholte sich nun unendliche Male. Er fühlte, das
liegt am »Verrat«, der irgend etwas jedesmal anstellt. Schließlich gelang endlich der Einzug ohne
Störung. Er hatte das Gefühl, eine Unsumme von Ewigkeiten sei vergangen. Nun fing er an zu
duseln, nicht gerade zu schlafen. Das war das Zeichen, daß alles in ihm war. Jetzt dachte er: es
steht noch der Kampf bevor mit den andern Göttern, die nicht zur Erde gehören. Er fühlte gesteigertes
Leben in sich. Muskelgefühl, Intellekt, Kraft, das Riesenherz mit den Göttinnen, die Riesentritte
der Kriegsgötter fühlte er. (Er meint spontan, der Pulsschlag habe hier die Grundlage gebildet.)
Er war einer ungeheuren Liebe fähig.
Er öffnete die Augen. In der Decke waren allerlei Risse. Anstatt deren sah er nun alle Götter
an der Decke. Alle stellten sich ihm vor und sahen ihn liebevoll an. Einer, der Sonnengott, sah
ihn besonders lange an. Es war ein durchdringender Blick, offenbar um des Kranken Blick zu
stärken. Dieser Sonnengott hatte einen geradezu blendenden Blick. Die wirkliche Sonne, die ins
Fenster schien, erschien dabei fahl. Der Gott hatte einen hängenden Schnurrbart, sah wild aus.
Beiseite lag der Tod als Gerippe. Er war lahmgelegt und besiegt für alle Zeiten. Beim Sehen der
Götter fühlte er, wie er stärker wurde. Er hatte nun das Bewußtsein, daß er alle und alles sehen
könne. Da merkte er: der Teufel, die Laster, die Hölle genieren sich. Er kommandierte: jeder kann
jede Gestalt annehmen, die er will. Bei allen diesen Vorgängen war sein Ich nicht mehr das per-
sönliche Ich, sondern das Ich mit der ganzen Welt erfüllt.
Von neuem überkam ihn der Gedanke: ich muß noch an die außerirdischen Götter. Bei diesem
Gedanken wurde es totenstill. Ihm war klar: das müssen Riesenwelten sein. Alles schreckt in ihm
zusammen vor dem Schaurigen, was noch zu erleben ist. Alles ist bereit zu sterben. Er fühlte das
Stattfinden ungeheurer Kämpfe, fühlte Sieg und den Einzug der Besiegten. Neue Kämpfe, neuer
Einzug und so weiter bis zur Ruhe. Nun war in ihm die irdische Welt vor der ungeheuren außerirdi-
schenganz klein geworden. Er war tief traurig. Eine Art Heimwehgefühl beseelte ihn. Vorher war es
lustig in ihm gewesen. Die einen hatten ihn gekitzelt, die Schwaben ihm die Hände geschüttelt
usw. Jetzt war das alles weg. Die Kämpfe, die er nur gefühlt, die andern aber erlebt hatten, hatten
zum Einzug jener Welten und zur Bedrängnis der irdischen Welt geführt. Es herrschte eine
unheimliche Stille. Er hatte sofort den Gedanken: in dieser Riesenwelt kann ich keine Ordnung
schaffen. Die Unendlichkeit kann er nicht fassen. Er setzte den alten Gott zur Herrschaft ein. Er
selbst (der neue Gott) wollte bloß in der irdischen übersinnlichen Welt herrschen und leben, nach
der er Heimweh hatte. Als er Gott eingesetzt hatte, brauchte er sich nicht mehr um die Ordnung zu
kümmern. Er befahl noch den Irdischen: »Wer nicht da bleiben will, kann in jene höheren Sphä-
ren, in die übergroße Welt fahren.« Auf diesem Wege - so hatte er das Gefühl - war er gleichzeitig
von dem skeptischen Regressus ad infinitum befreit.
Durch die ganze Folge der Erlebnisse ging ein Gefühl: alle Genien haben mir vorgearbeitet; ich
bin eigentlich nur der Zusammenfassende; dadurch habe ich die Kraft. Er glaubte, alle Großen
hätten den bösen Blick: Frank Wedekind, Mizzi Schaffer,896 Irene Triesch; diese Menschen seien
der Tod. Er hätte sie alle ausgehalten, dadurch sei alles möglich geworden.
Wie aus den Schilderungen hervorgeht, hatte er während der ganzen Zeit die widersprechend-
sten Vorstellungen. Das ist ihm nicht nur jetzt, sondern das war ihm schon damals bewußt. Er
war oft in Zweifeln. Seine Stimmung hatte vielfach etwas Gepreßtes, etwas Weinerliches darüber,
daß er selbst in der überirdischen Welt aus seinen Zweifeln nicht herauskomme. Er fragte sich oft:

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