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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0498
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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Frank Wedekind. Einmal kam ihm auch ein Bein -wie gelähmt vor. Niemals hatte er | das Gefühl 391
des Grausens, Sinnestäuschung und Wirklichkeit nicht unterscheiden zu können. Niemals
Gleichgewichtstäuschungen. Kein Lauterhören von Geräuschen (überhaupt keine Hyperästhe-
sien). Nie Schwindel, Kopfweh nur einmal in der Heimat (siehe oben). Kein Ohrensausen. Er
hat keine auffälligen Schweißausbrüche bemerkt. - Überall im Körper war dauernd ein Klopfen
(Herz). - Stuhlverstopfung, aber oft uriniert. - Schlechter Geschmack im Munde, so daß er einmal
sagte: »Die Halsstinkerei muß ein Ende nehmen.« - Manchmal schüttelte er die Hand in dem
Gefühl, damit beim »Einzug« den Schwaben die Hand zu drücken.
Sowohl der Hergang in der Bekämpfung der Psychose wie die spätere Einsicht sind ebenso kom-
plizierte Gebilde wie alle Einzelheiten dieser Psychose. Nachdem er den beschriebenen Weg der
Ablenkung gefunden hatte, bekämpfte er auf diese Weise seine Vorstellungen, obwohl er noch
daran glaubte. »Nachdem auf diese Weise der Phantasiestrudel einmal abgelöst war, konnte ich zu mir
kommen.« Er gab sich von jener Nacht an große Mühe, sich zu benehmen wie ein normaler Mensch.
Im Kurpark war die Selbstbeherrschung endgültig unmöglich geworden. Jetzt begann sie von
neuem. Er hatte große Anstrengung ruhig »zu urteilen, wie Menschen es tun«, so z.B. über eine
Zeitung gegenüber dem Wärter oder dem Arzt. Ob es Wirklichkeit oder Phantasie war, war ihm
damals völlig gleichgültig, als er zur Wirklichkeit wollte. Er wollte, weil er es nicht mehr aushielt.
Das Erleben war erledigt, nicht beurteilt. Er dachte noch nicht darüber nach.
Erst als er im Laufe der Tage sich sein Seelenleben wieder zur Normalität hin verändert hatte,
reflektierte er z.B.: ich hab das Gefühl, eine Ewigkeit hinter mir zu haben, aber in der Wirklich-
keitmuß ich das akzeptieren, daß es der 18. Mai ist. Diese Reflexionen führten bald dazu, daß er
seine volle Einsicht in seiner intellektuellen Beurteilung der Krankheit gewann. Doch war diese
Stellung nicht einfach: »Es gibt für mich keinen Maßstab, warum die Halluzination weniger evi-
dent wäre als Wirklichkeit«; »ich besitze gar keinen Maßstab dafür, ob das übersinnliche Wirk-
lichkeit oder Phantasie war«; »im Scherz« und »als Philosoph« mache er solche Einwände. Natür-
lich wisse er, daß ein in der Wirklichkeit Lebender, und daß er als ein solcher, die Krankheit nur
als Phantasie ansehen könne. Noch mehrere Wochen später äußerte er in diesem Sinne von sei-
ner Psychose: »ich zweifle bezüglich der Wirklichkeit; theoretisch, praktisch nicht; ich würde ja
dauernd eingesperrt, wenn ich sie für wirklich hielte«. Es tat ihm leid, daß ihm die Phantasie-
welt aus der Erinnerung langsam entschwände.
Nach der Psychose
Von vielen Dingen, aus den Tagen vor der Psychose, weiß er nicht bestimmt, ob das Wirklichkeit
oder auch Psychose war. Deswegen fühlt er sich in seiner Heimat so unsicher und mag nicht zu-
rück. Er weiß nicht sich zu benehmen, weil er in der Vergangenheit Krankheitsinhalt und Wirk-
lichkeit im Einzelfalle nicht scharf trennen kann.
Bezüglich der Erlebnisse vor der Psychose hat er keine Einsicht. Die Beziehung der Kindesein-
wicklung auf sich hält er »bei der Situation« nicht für krankhaft, wenn auch für irrtümlich. Dage-
gen die Beziehung des Inhalts des übersandten Antiquariatskataloges auf seine Person hält er
noch für richtig. Diese Meinung und die Ansichten über die Machinationen des Ministeriums
gänzlich für Beziehungswahn zu erklären, hält er für unmöglich. Ängstlich und etwas empört
sagt er: »Wenn ich das für krank halten soll, muß ich mich ganz für krank halten, das Beste, was
ich habe, meine Intelligenz und alles ..., daß ich darauf komme, daß ich das heraus merke.«
Im Laufe der Zeit wurde es ihm peinlich, über sich Auskunft zu geben. Früher habe er mir freier
erzählt »aus Trotz, weil ich noch zweifelte«. »Wenn man gesund ist, will man ganz richtig und objek-
 
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