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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0012
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Einleitung des Herausgebers

XI

ab.19 Das durch die Erfolge der Naturwissenschaften bestärkte Fortschrittsdenken, das
sich seit Darwins 1859 vorgelegter Schrift On the Origin ofSpecies20 nicht unerheblich
aus einer abenteuerlichen Verknüpfung vor allem evolutionsgeschichtlicher Erkennt-
nisse mit sozialdarwinistischen Visionen speiste, formierte sich unter dem Banner
»Neue Weltanschauung« zu einer Bewegung des »Kulturfortschritts auf naturwissen-
schaftlicher Grundlage«,21 die sich der vermeintlich überholten christlichen Weltan-
schauung gegenüberstellte.22 So propagierte der populäre Zoologe und Philosoph Ernst
Haeckel in einer waghalsigen Kombination aus naturwissenschaftlichen Erkenntnis-
sen, Erfahrungswissen und metaphysischen Phantasien die »Weltanschauung der mo-
nistischen Wissenschaft« als Weltanschauung auf naturwissenschaftlicher Grundlage
und stellte eine »vervollkommnete Moral« in Aussicht, »frei von allem religiösen
Dogma und auf die klare Erkenntnis der Naturgesetze gegründet«.23 Schon die Anfänge
dieser Entwicklung hatten zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Nach ersten
Scharmützeln Mitte der i86oer-Jahre war Ende der i88oer-Jahre von theologischer
Seite unverhohlen von einem »Kampf um die Weltanschauung« die Rede.24 Autoren
wie Ernst Troeltsch und Richard von Arnim versuchten, sich mit Publikationen gegen
den neuen Alleingeltungsanspruch der Naturwissenschaften zu wehren.25
Auch gaben der Verlust kirchlicher Deutungshoheit und die durch das Zurücktre-
ten tradierter Verbindlichkeiten neu gewonnene Freiheit Raum für das Entstehen ei-
ner weiteren, im Kleide der Wissenschaft auftretenden Weltanschauung. Unter dem

19 So etwa in Friedrich Körners Buch Der Menschengeist in seiner persönlichen und weltgeschichtlichen
Entwickelung. Eine naturwissenschaftliche Seelenkunde und darauf gründende Weltanschauung (Leip-
zig 1870); diese Auseinandersetzung reicht zurück bis zum sog. »Materialismus-Streit« Mitte des
19. Jahrhunderts, als dessen bekannteste Antagonisten der Zoologe Carl Vogt und der Physiologe
Rudolf Wagner gelten (vgl. K. Bayertz u.a. [Hg.]: Der Materialismus-Streit, Hamburg 2012; S. Haß-
lauer: Polemik und Argumentation in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Eine pragmalinguistische
Untersuchung der Auseinandersetzung zwischen Carl Vogt und Rudolph Wagner um die >Seele<, Berlin,
New York 2010).
20 Der vollständige Titel lautet: On the Origin ofSpecies by Means of Natural Selection, or the Preserva-
tion ofFavoured Races in the Struggle for Life, London 1859 (dt. 1860).
21 Vgl. hierzu: F.-S. Ritz: »Die freigeistige Bewegung im Kaiserreich«, in: U. Puschneru.a. [Hg.]: Hand-
buch zur »Völkischen Bewegung« 1871-1918, München u.a. 1996,208-223, 213-214.
22 Ein Beispiel hierfür ist die Gründung der Zeitschrift Kosmos. Zeitschrift für einheitliche Weltanschau-
ung auf Grund der Entwicklungslehre, die 1877-1886 erschien.
23 In seinem Buch Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie aus dem
Jahr 1904 schreibt Haeckel: »Die vervollkommnete Moral, frei von allem religiösen Dogma und
auf die klare Erkenntnis der Naturgesetze gegründet, lehrt uns die alte Weisheit der goldenen
Regel« (ebd., Leipzig 1925, 369).
24 Vgl. O. Dreyer: Im Kampf um die Weltanschauung, Freiburg 1888.
25 Vgl. R. von Arnim: Die Überlegenheit der christlich-biblischen Weltanschauung über alle wissenschaft-
lichen Weltanschauungen« (Frankfurt a.O. 1898); E. Troeltsch: »Die christliche Weltanschauung
und die wissenschaftlichen Gegenströmungen«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Bd. 3 (1893)
493-528; vgl. hierzu auch: H. Wagner: Klar zum Gefecht! Fingerzeige zur Verteidigung des Christen-
tums gegen die moderne Weltanschauung, Montauban 1904.
 
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