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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0015
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XIV

Einleitung des Herausgebers

lieh auch die entsprechende Ratgeberliteratur, mit deren Hilfe vor allem der Jugend die
»nationalsozialistische Weltanschauung« in aller Einfachheit vermittelt werden soll-
te.43 Der Weltanschauungsbegriff war zum Vermittler nationalsozialistischer Mythen-
bildung und Propaganda geworden und zum Medium, in dem sich vor allem Geistes-
und Sozialwissenschaften der »nationalsozialistischen Revolution« andienten.
Die Frage nach der rechten Weltanschauung war - so lässt sich aus diesen Akzen-
tuierungen und Entwicklungen schließen - charakteristisch für die Sinnsuche des mo-
dernen Menschen, die sich in der deutschen Weltanschauungsliteratur mit der Expo-
sition großer Vorbilder, Kämpfen um geistige Deutungshoheit, Ratgebern für das
geistige und leibliche Wohl und schließlich mit einer identitätsstiftenden nationalso-
zialistischen Ideologie verband, die die Sinnsuche und die damit verbundenen Bedürf-
nisse geschickt für machtpolitische Zwecke auszunutzen wusste.
Die Sinnsuche markiert dabei das zentrale motivationale Moment der Weltan-
schauungsliteratur, wie sich besonders augenfällig in der großen Bandbreite von Zeit-
schriften zeigt, die das Thema in der breiten Öffentlichkeit ventilierten.44 Nicht von
ungefähr fällt der Aufstieg des Begriffs »Weltanschauung« in eine Zeit der »Entzaube-
rung der Welt«,45 der durch die rohstoffhungrige Industrialisierung vorangetriebenen
Kolonialisierung, des damit verbundenen Anstiegs kultureller Fremdkontakte, des
Siegeszuges der mathematischen Naturwissenschaft und nicht zuletzt des zunehmen-
den Verfalls kirchlicher Autorität und tradierter geistiger und religiöser Verbindlich-
keiten. Die Auseinandersetzung mit der Weltanschauungsfrage erscheint vor diesem
Hintergrund als Symptom einer zutiefst verunsicherten Zeit, dessen Signatur, die in-
dividuelle Halt- und Sinnsuche, in Jaspers’ Werk nicht nur durch die Aufnahme der
Weltanschauungsthematik Eingang gefunden hat, sondern auch in seinen philoso-
phischen Impulsen und Wertsetzungen zum Ausdruck kommt.
Jaspers ist sich der historischen Besonderheit des Weltanschauungsproblems und
deren Konsequenz für eine psychologische Analyse durchaus bewusst. So schreibt er:

43 Vgl. K. Lorenz: Hitlers Deutschland. Die Grundgedanken der nationalsozialistischen Weltanschauung
und ihre Verwirklichung bis 1936. Zum Gebrauch für Schulen und Schulungskurse, Breslau 1936;
G. Griesmayr: Wir Hitlerjungen: Unsere Weltanschauung in Frage und Antwort, Berlin 1936.
44 Exemplarisch seien hier genannt: Weg zum Licht: Illustrierte Monatsschrift zur Förderung geistiger
Weltanschauung (1913); Freigeistige Mitteilungen: Halbmonatsschrift für fortschrittliche Weltanschau-
ung (1926-1929); Der Zwinger. Zeitschrift für Weltanschauung, Fheater und Kunst (1917-1921); Men-
schentum: Zeitschrift für freie Weltanschauung (1917-1920); Natur und Geist: Monatshefte für Wissen-
schaft, Weltanschauung und Lebensgestaltung (1933-1939); Die Sonne: Monatsschrift für Nordische
Weltanschauung und Lebensgestaltung (1924-1939); Erwachendes Europa: Monatsschrift für national-
sozialistische Weltanschauung, Außenpolitik u. Auslandskunde (1933-1934).
45 Als »Entzauberung der Welt« beschreibt Max Weber in seiner 1917 in München gehaltenen Rede
»Wissenschaft als Beruf« die Entwicklung, nach der eine durch den wissenschaftlichen Fortschritt
angestoßene »intellektualistische Rationalisierung« den Glauben an die alten bildhaften Mythen
zerstört und durch den Glauben ersetzt habe, man könne prinzipiell alle Dinge »durch Berech-
nung« beherrschen (MWGI/17, 71-m, 86-87).
 
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