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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0016
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Einleitung des Herausgebers

XV

»Von Weltanschauungspsychologie kann nur die Rede sein in Zeiten der Individuali-
sierung. Für gebundene Zeiten, in denen eine Weltanschauung als selbstverständlich
für alle die gleiche ist, kann es nur eine Sozialpsychologie der Weltanschauung geben.
Wo Menschengruppen gemeinsame Weltanschauung haben, tritt der Charakter und
das Erleben des einzelnen in dieser Ausdruckssphäre für uns sichtbar nicht hervor. [...]
Erst wo individuelle Freiheit entsteht, wird die Weltanschauung auch zum charakte-
rologischen Ausdruck des einzelnen.«46
Es ist demnach die individuelle Freiheit, die die Frage nach der Weltanschauung
zu einer Aufgabe der Selbstgestaltung und Selbstverortung werden lässt und damit in-
dividuelle charakterologische Ausdrucksgestalten hervorruft. Die Individualisierung
selbst aber ist kein universales, sondern ein historisches Phänomen. Erst die Auflösung
tradierter Verbindlichkeiten, Konventionen und Deutungsschemata zieht den Einzel-
nen in den »Hexenkessel des Nihilismus«47 und stellt ihn vor die Herkulesaufgabe ei-
ner Selbstgestaltung ohne Anerkennungsgarantie.
Sofern die Weltanschauungsfrage synonym für diese kulturgeschichtliche Situa-
tion steht, kann Jaspers’ Auseinandersetzung mit ihr als Initialzündung für sein exis-
tenzphilosophisches Denken angesehen werden. Indem er aber über weite Strecken
die Weber’sche Perspektive des typologisierenden Beobachters einnimmt, ist der Zu-
gang in seinem Frühwerk noch dezidiert psychologisch. Dies gilt nicht nur für die Be-
trachtung der »objektiven« Weltbilder, sondern auch für die »subjektive« Seite der
Weltanschauungen. Denn die Weltanschauungsfrage charakterologisch interpretie-
ren heißt, die Auseinandersetzung mit ihr unter typologischen Gesichtspunkten füh-
ren und in den Kontext subjektiver Einstellungen und Dispositionen stellen.
3. Die Wertphilosophie
Auch an der akademischen Philosophie war der Sog des Nihilismus, der durch das Be-
wusstsein der historischen Relativität philosophischer Systeme und den Abstieg tra-
dierter Deutungsschemata entstanden war, nicht spurlos vorübergegangen. Zudem
wuchs angesichts des u.a. von Max Weber für die Wissenschaften proklamierten Wert-
urteilsfreiheitspostulats der Druck auf die Philosophie, die Frage nach dem Sinn des
Lebens und der rechten Weltanschauung zu Klarheit und Entscheidung zu bringen.
Den Schlüssel dazu versprach man sich von einer Philosophie der Werte.
Den Anstoß, die Werte programmatisch zum Gegenstand der Philosophie zu erhe-
ben, gab 1883 Hermann Lotze in seinem Werk Grundzüge der Logik.48 Innerhalb des im
46 K. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 55.
47 Vgl. ebd., 283.
48 In dem genannten Werk Grundzüge der Logik und Enzyklopädie der Philosophie (Leipzig 51912) führte
Lotze »Untersuchungen über die Werthe« aus (124-128). Lotze spricht dort u.a. von den »Wert-
Urteilejn] über Schönes und Gutes«; vgl. hierzu auch: S. Schlotter: »Wert«, in: HWPh, Bd. 12, 559.
 
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