Einleitung des Herausgebers
XIX
Wie schon angedeutet, begegnete der neukantianischen Wertphilosophie schon
auf dem Zenit ihrer Ausbreitung eine Konkurrenz, die sie an Strahlkraft rasch überbie-
ten sollte: die Phänomenologie Husserls, die auf historische Ahnenreihen weit weni-
ger gab als der Neukantianismus und deren Schulbildung eine ganze Reihe philoso-
phischer Schwergewichte auf die Bühne des philosophischen Denkens zauberte. Einer
der bekanntesten, Max Scheier, verfasste in den Jahren 1913-1916 das breit angelegte
Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik,67 das durch seine beinahe
enzyklopädisch angelegte Darstellung verschiedenster Werte und Wertqualitäten die
kurze und altbacken wirkende Werteliste der Südwestdeutschen Schule tief in den
Schatten stellte. Auch wenn Scheier seine darin geleistete Grundlegung letzten Endes
nicht in eine materiale Wertethik überführen konnte, blieb seine Schrift so wirkmäch-
tig, dass Nicolai Hartmann 1926 den Versuch einer Ausarbeitung des skizzierten Pro-
gramms unternahm.68
Jaspers stand, wie sein kurzer Exkurs zur Unterscheidung verschiedener Wertebe-
nen in der ersten Auflage seines Buches zeigt, dem phänomenologischen Ansatz Sche-
iers methodisch und inhaltlich69 weitaus näher als dem transzendentalphilosophi-
schen Rickerts. Der von Scheier konstatierte Apriorismus der Werte und das normative
Anliegen mögen Jaspers aber, zusammen mit Abgrenzungsimpulsen gegenüber Win-
delband und Rickert, davon abgehalten haben, der Frage der Werte mehr Raum in sei-
nem Buch zu geben.
4. Die Psychologismus-Kontroverse
Neben den in der wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Literatur ausge-
tragenen Kämpfen um weltanschauliche Deutungshoheit rumorten 1919 in der Phi-
losophie und Psychologie noch die Nachwehen einer in ihrer Tragweite kaum zu über-
schätzenden akademischen Debatte, die als »Psychologismusstreit« bekannt wurde.70
Obwohl Jaspers sich von dem Anspruch, Grundlagen des Denkens aus Ergebnissen ex-
perimenteller Forschung ableiten zu wollen, deutlich distanzierte und solche Versu-
che als »Verabsolutierungen« und »Hirnmythologie«71 verurteilte, war er als Psycho-
67 EV in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hg. von E. Husserl, Bd. 1, Teil II,
Halle 1913, 405-565; ebd., Bd. 2, Halle 1916, 21-478; NA in: Gesammelte Werke, Bd. 2, hg. von
M. Frings, Bonn 72ooo.
68 N. Hartmann: Ethik, Berlin, Leipzig 1926.
69 Vgl. hierzu bes. die Erstausgabe der Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919,192-194.
70 Vgl. hierzu: M. Rath: Der Psychologismusstreit in der deutschen Philosophie, Freiburgi. Br., München
1994; W. Loh, M. Kaiser-el-Safti: DiePsychologismus-Kontroverse, Göttingen 2011; P. Janssen: »Psy-
chologismus«, in: HWPh, Bd. 7,1676-1678,1676.
71 Vgl. K. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 177,192-193; ders.: Allgemeine Psychopathologie,
3. Auf!., 13; vgl. hierzu auch: T. Fuchs: »Hirnmythologien. Jaspers’ Reduktionismus-Kritik heute«,
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Wie schon angedeutet, begegnete der neukantianischen Wertphilosophie schon
auf dem Zenit ihrer Ausbreitung eine Konkurrenz, die sie an Strahlkraft rasch überbie-
ten sollte: die Phänomenologie Husserls, die auf historische Ahnenreihen weit weni-
ger gab als der Neukantianismus und deren Schulbildung eine ganze Reihe philoso-
phischer Schwergewichte auf die Bühne des philosophischen Denkens zauberte. Einer
der bekanntesten, Max Scheier, verfasste in den Jahren 1913-1916 das breit angelegte
Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik,67 das durch seine beinahe
enzyklopädisch angelegte Darstellung verschiedenster Werte und Wertqualitäten die
kurze und altbacken wirkende Werteliste der Südwestdeutschen Schule tief in den
Schatten stellte. Auch wenn Scheier seine darin geleistete Grundlegung letzten Endes
nicht in eine materiale Wertethik überführen konnte, blieb seine Schrift so wirkmäch-
tig, dass Nicolai Hartmann 1926 den Versuch einer Ausarbeitung des skizzierten Pro-
gramms unternahm.68
Jaspers stand, wie sein kurzer Exkurs zur Unterscheidung verschiedener Wertebe-
nen in der ersten Auflage seines Buches zeigt, dem phänomenologischen Ansatz Sche-
iers methodisch und inhaltlich69 weitaus näher als dem transzendentalphilosophi-
schen Rickerts. Der von Scheier konstatierte Apriorismus der Werte und das normative
Anliegen mögen Jaspers aber, zusammen mit Abgrenzungsimpulsen gegenüber Win-
delband und Rickert, davon abgehalten haben, der Frage der Werte mehr Raum in sei-
nem Buch zu geben.
4. Die Psychologismus-Kontroverse
Neben den in der wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Literatur ausge-
tragenen Kämpfen um weltanschauliche Deutungshoheit rumorten 1919 in der Phi-
losophie und Psychologie noch die Nachwehen einer in ihrer Tragweite kaum zu über-
schätzenden akademischen Debatte, die als »Psychologismusstreit« bekannt wurde.70
Obwohl Jaspers sich von dem Anspruch, Grundlagen des Denkens aus Ergebnissen ex-
perimenteller Forschung ableiten zu wollen, deutlich distanzierte und solche Versu-
che als »Verabsolutierungen« und »Hirnmythologie«71 verurteilte, war er als Psycho-
67 EV in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hg. von E. Husserl, Bd. 1, Teil II,
Halle 1913, 405-565; ebd., Bd. 2, Halle 1916, 21-478; NA in: Gesammelte Werke, Bd. 2, hg. von
M. Frings, Bonn 72ooo.
68 N. Hartmann: Ethik, Berlin, Leipzig 1926.
69 Vgl. hierzu bes. die Erstausgabe der Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919,192-194.
70 Vgl. hierzu: M. Rath: Der Psychologismusstreit in der deutschen Philosophie, Freiburgi. Br., München
1994; W. Loh, M. Kaiser-el-Safti: DiePsychologismus-Kontroverse, Göttingen 2011; P. Janssen: »Psy-
chologismus«, in: HWPh, Bd. 7,1676-1678,1676.
71 Vgl. K. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 177,192-193; ders.: Allgemeine Psychopathologie,
3. Auf!., 13; vgl. hierzu auch: T. Fuchs: »Hirnmythologien. Jaspers’ Reduktionismus-Kritik heute«,