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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0036
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Einleitung des Herausgebers

XXXV

den Begriff des Verstehens für das »von innen gewonnene Anschauen des Seelischen«.
Demgegenüber nennt er, wie Dilthey, das auf Basis von außen herangetragener Gründe
und Hypothesen operierende Konstruieren objektiver Kausalzusammenhänge
»Erklären«.172
Anders als das Verstehen, das sich mit dem »wirklich erfahrenen« Seelenleben, mit
dem »unmittelbar Gegebenen« beschäftigt, kommt das Erklären, wie Jaspers meint,
»nicht ohne theoretische Vorstellungen, nicht ohne Hinzugedachtes« aus,173 bedarf also
stets des Zugrundelegens von etwas »Außerbewußtem«, wie »außerbewußten Dispo-
sitionen«, »Anlagen« und »seelischen Konstitutionen«, um Evidenz erzeugen zu kön-
nen.174 Zentral ist für Jaspers’ Verstehende Psychologie die Unterscheidung zwischen
»statischem« und »genetischem Verstehen«.175 Während im genetischen Verstehen das
Hervorgehen von Seelischem aus Seelischem durch Einfühlung erfasst wird, meint das
»statische Verstehen« ein »Sichvergegenwärtigen« seelischer Zustände, ein »Sich-zur-
Gegebenheit-Bringen« seelischer Qualitäten,176 das sich auf die Erfassung von Gege-
benheiten, Erlebnissen und Bewusstseinsweisen, nicht auf die Genese seelischer Phä-
nomene richtet.177 In der Allgemeinen Psychopathologie schreibt Jaspers: »Im statischen
Verstehen {Phänomenologie) erfassen wir gewissermaßen den Querschnitt des Seeli-
schen, im genetischen Verstehen (verstehende Psychopathologie) den Längsschnitt.«178
In seinem Aufsatz »Kausale und >verständliche< Zusammenhänge« erläutert Jaspers
den Geltungsanspruch der Verstehenden Psychologie am Beispiel genetischen Verste-
hens und offenbart damit eine deutliche Nähe zu Webers Verstehender Soziologie:
»Wenn Nietzsche uns überzeugend verständlich macht, wie aus dem Bewußtsein
von Schwäche, Armseligkeit und Leiden moralische Prinzipien, moralische Forderun-
gen und Erlösungsreligion entspringen, weil die Seele auf diesem Umweg trotz ihrer
Schwäche ihren Willen zur Macht befriedigen will, so erleben wir eine unmittelbare
Evidenz, die wir nicht weiter zurückführen, nicht auf eine andere Evidenz gründen
können. Auf solchen Evidenzerlebnissen gegenüber ganz unpersönlichen, losgelösten
verständlichen Zusammenhängen baut sich alle verstehende Psychologie auf. Solche
Evidenz wird aus Anlaß der Erfahrung gegenüber menschlichen Persönlichkeiten ge-
wonnen, aber nicht durch Erfahrung, die sich wiederholt, induktiv bewiesen. Sie hat

172 K. Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 3. Auflage, 19; vgl. hierzu auch: D. v. Engelhardt: »Erklären
und Verstehen - Karl Jaspers im Kontext der Medizin- und Philosophiegeschichte«, in: D. v. En-
gelhardt, H.-J. Gerigk (Hg.): Karl Jaspers im Schnittpunkt von Zeitgeschichte, Psychopathologie, Lite-
ratur und Film, Heidelberg 2009,17-36.
173 K. Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 3. Auflage, 19-20.
174 Vgl. ders.: »Kausale und >verständliche< Zusammenhänge«, 334.
175 Ebd., 343. Diese Unterscheidung hatte Jaspers schon in »Die phänomenologische Forschungs-
richtung« getroffen (vgl. ebd., 327).
176 K. Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 3. Auflage, 199.
177 Ders.: »Die phänomenologische Forschungsrichtung«, 340.
178 Ders.: Allgemeine Psychopathologie, 3. Auf!., 18.
 
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