Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0074
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Einleitung des Herausgebers

LXXIII

Jaspers die Verwirklichung der Existenz in der Philosophie an den geliebten Anderen
koppelt. Jaspers’ existenzphilosophisches Konzept ist wesentlich ein Konzept des sich
wechselseitigen Herausforderns und Offenbarwerdens in einem »liebenden Kampf«,
der um die Wahrheit der Existenz geführt wird.375 Zwar bedarf auch für Jaspers die Exis-
tenz der Einsamkeit, aber diese ist für ihn nur Vorstufe, nämlich »Bereitschaftsbewußt-
sein möglicher Existenz, die nur in Kommunikation wirklich wird«.376
Das neben dem Existenzbegriff augenfälligste Erbe aus der Psychologie der Weltanschau-
ungen bildet die Grenzsituation, die in Jaspers’ Philosophie zu einem unverzichtbaren
Element seines existenzphilosophischen Konzepts wird. Schon in der frühen Schrift
werden die Grenzsituationen als antinomische Situationen des Lebensprozesses zwi-
schen Wertschöpfung und Wertvernichtung, als Ringen um einen geistigen Halt ge-
fasst, das in konstruktiver Wendung der Grenzerfahrungen zum Erwerb von Lebens-
kraft und dem Erlebnis einer Berührung mit dem Unendlichen führen kann.377 Was
aber aus philosophischer Perspektive fehlt, ist die Einbettung der Grenzsituation in
eine philosophische Systematik. Erst in der Philosophie wird die Grenzsituation zum
integralen Bestandteil eines existenzphilosophischen Gefüges und im Horizont der je
eigenen Geschichtlichkeit verortet. Dabei verändert Jaspers die ursprüngliche Unter-
teilung der Grenzsituationen in Kampf, Tod, Zufall und Schuld dahingehend, dass das
Leiden den Zufall als einzelne Grenzsituation ersetzt.378 Stattdessen wird der Zufall in
die Grenzsituation der »geschichtlichen Bestimmtheit der Existenz« aufgenommen.
In dieser kommt das Geschichtliche in allem Dasein der Existenz zu Bewusstsein und
bildet gleichsam den subjektiven historischen Horizont, in dem die einzelnen Grenz-
situationen wie Tod, Leiden, Kampf und Schuld den Einzelnen treffen.379 Ihren syste-
matischen Stellenwert erhalten die Grenzsituationen in der Philosophie als der Freiheit
und Kommunikation zur Seite gestellte »Signa«, d.h. Zeiger auf Existenz. Zu Erwe-
ckungserlebnissen werden sie aber nicht als objektive Gegebenheiten, sondern erst
»durch den einzigartigen umsetzenden Vollzug im eigenen Dasein«380, der sie als »Sprung«
erscheinen lässt, »in dem mögliche Existenz zur wirklichen wird«.381 Der Sprung führt zur
»Gewißheit der Existenz« und erlaubt eine »Berührung mit den existentiellen Wur-
zeln«, die das Dasein auf Transzendenz hin durchsichtig werden lassen.382

375 Vgl. ebd., 13, 67.
376 Ebd., 61.
377 Ders.: Psychologie der Weltanschauungen, 229-230.
378 In seinem Spätwerk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung kehrt Jaspers wieder zur
Einteilung der Psychologie der Weltanschauungen zurück (vgl. KJG I/13,118).
379 K. Jaspers: Philosophie II, 209.
380 Ebd., 206.
381 Ebd., 206.
382 Vgl. ders.: Philosophie I, 33; PhilosophieII, 214.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften