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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0101
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Psychologie der Weltanschauungen

gutem Gewissen unter dem Namen der Psychologie mich mit allem zu beschäftigen,
was man wissen kann. Denn es gibt nichts, was nicht in diesem weiten Sinn eine psy-
chologische Seite hat. Keineswegs nahm ich die damals in dem Heidelberger Kreise
(Windelband, Rickert) herrschende Abgrenzung der Psychologie an.7 Was ich unter
dem Titel »verstehende Psychologie«8 in einem Kapitel meiner Psychopathologie9 be-
gonnen hatte, wurde mir nun identisch mit dem, was in der großen Überlieferung gei-
steswissenschaftlichen und philosophischen Verstehens getan war. Ich las neben Vor-
lesungen über Sinnes-, Gedächtnis-, Ermüdungspsychologie vor allem Vorlesungen
über Sozial- und Völkerpsychologie, Religionspsychologie, Moralpsychologie, Cha-
rakterologie.10 Unter diesen Vorlesungen war eine die mir wichtigste. Unter dem Titel
»Psychologie der Weltanschauungen« habe ich sie 1919 veröffentlicht. Die Arbeit an
ihr wurde, mir unbewußt, mein Weg zur Philosophie. Mehrere Motive haben sich in-
einander geschlungen. Es sind folgende:
Schon in der Zeit meiner klinischen Jahre machte ich eine mich erregende Erfah-
rung. Im Kampf der wissenschaftlichen Anschauungen und der lebendigen Persön-
lichkeiten spielte nicht einfach das empirisch und logisch für jedermann gleicherma-
ßen Richtige eine Rolle. Dies zwingend Gültige herauszuarbeiten zeigte sich vielmehr
als die schwierige Aufgabe. In der Diskussion war fast immer auch etwas anderes fühl-
bar. Nicht etwa unser Geltungsbedürfnis, unser Rechthabenwollen war dabei interes-
sant, sondern irgendein Etwas, das nicht faßbar war, obgleich es Schranken zwischen
den Menschen aufzurichten schien. Auch bei den öffentlich sprechenden Forscher-
persönlichkeiten unter den Psychiatern nahm ich dies wahr, was zwischen ihnen Ver-
wandtschaft oder Feindschaft bewirkte unabhängig von wissenschaftlicher Richtig-
keit. So waren damals für mich Freud11 und Hoche,12 denen ich persönlich nicht
begegnet bin, beide einander völlig heterogen, Repräsentanten von Mächten, die zu
sehen ich mir nicht verschloß, die mich zum Studium ihrer Schriften zwangen. Ihnen
beiden leistete ich innerlich Widerstand mit Impulsen, die über die Inhalte des von
X ihnen Erörterten hinausgingen in eine andere Richtung. Sie begleiteten | meine Jugend
gleichsam als meine Feinde, die im Medium der Wissenschaft etwas durchsetzen woll-
ten, was gar nicht Wissenschaft ist, und dies in einer philosophischen Gesinnung, die
ich als eine verwerfliche spürte, gegen die ein Denken aus ganz anderem Ursprung zu
klären und zu behaupten war. Was das sei, wollte ich nun nicht mehr an ihrem Bei-
spiel, sondern angesichts der Geschichte und der Menschen überhaupt anschaulich
vor Augen gewinnen.
Als ich mir die Frage nach den ursprünglichen Weltanschauungen stellte, zeigte
sich meinem Suchen die großartige Überlieferung der Denker, die solche Psychologie,
nicht oder nur zum Teil unter dem Namen Psychologie, entworfen hatten. Hegels
Phänomenologie des Geistes, dann vor allem Kierkegaard, den ich seit 1914 stu-
dierte, in zweiter Linie Nietzsche, waren wie Offenbarungen.13 Sie vermochten eine
Hellsicht bis in jeden Winkel der menschlichen Seele und bis in ihre Ursprünge mit-
 
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