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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0102
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Psychologie der Weltanschauungen

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teilbar zu machen. Ich stellte in meinem Buch Kierkegaard und Nietzsche neben-
einander trotz ihrer scheinbaren Fremdheit (Christ und Atheist). Heute ist ihre Zusam-
mengehörigkeit so selbstverständlich geworden, daß der Name des einen an den des
anderen denken läßt.
Diese Psychologie der Weltanschauungen wolle keine Philosophie bringen, so
schrieb ich. Aber in der Tat dachte ich an nichts als an das eigentliche Menschsein.
Diese Tendenz verbarg sich vor sich selber zugunsten eines Anschauens der bloßen
Wirklichkeiten. Obgleich ich in meiner vorher entstandenen Psychopathologie die
methodische Bewußtheit als unerläßlich begriffen und in diesem Felde gefördert hatte,
und obgleich ich in der Psychologie der Weltanschauungen mit methodologischen
Überlegungen begann, blieb ich in bezug auf das Wesentliche damals in einer frucht-
baren Unklarheit.
Ich formulierte, Psychologie verstehe betrachtend alle Möglichkeiten der Weltan-
schauungen, Philosophie aber gebe eine, nämlich die wahre Weltanschauung. Eigent-
liche Philosophie sei prophetische Philosophie.14 Damit machte ich eine zu einfache,
in dieser Form unhaltbare Gegenüberstellung. Weil ich sie aber gemacht hatte, wurde
mir angesichts dessen, was ich in diesem Buch getan hatte, zweierlei klar: erstens die
Aufgabe einer Philosophie, die nicht prophetische, verkündende Philosophie ist, zwei-
tens die Aufgabe der Abgrenzung der empirisch forschenden Psychologie.
Das Erste: Was ich damals mit der Unterscheidung der Psychologie von propheti-
scher Philosophie wollte, ist der Sinn meines Philosophierens bis heute geblieben. Zwar
ist dieses Philosophieren keineswegs nur be|trachtend, wie es schon diese Psychologie
der Weltanschauungen in der Tat nicht war. Sie will in allem Darstellen im Grunde ver-
gegenwärtigen, beschwören, appellieren, also sich an die Freiheit wenden. Aber sie will
damit die Freiheit des Anderen nicht antasten, der im Philosophieren vielmehr sich
selbst finden muß, ohne daß die Philosophie als ein Werk und als ein Ganzes von Ge-
danken durch ein mitgeteiltes Wissen ihm das abnehmen könnte. In dem Sinne, wie
ich damals distanzierend von prophetischer Philosophie sprach, sind weder Plato
noch Kant Schöpfer prophetischer Philosophie. Diese wäre Religionsersatz. Was aber
die eigentliche Philosophie sei, und was sie kann, das wurde mir später und bis heute
zum Problem und vor allem zur Aufgabe. Mit meiner Weltanschauungspsychologie
stand ich naiv schon in ihrer Verwirklichung, ohne klar zu wissen, was ich tat.
Das zweite war, daß der Name Psychologie für diese Versuche nicht bleiben konnte.
Mein Weg von der Psychologie über die verstehende Psychologie zur Existenzphiloso-
phie15 machte die alte Aufgabe in neuer Gestalt zu einer dringenden: die Abgrenzung
einer wissenschaftlichen Psychologie und des methodischen Wissens um deren Mög-
lichkeiten und Grenzen. Diese Abgrenzung habe ich in der Folge weiter auf den Linien
meiner Psychopathologie zu vollziehen versucht.16 Es handelt sich um die Abgrenzung
einer wissenschaftlichen Psychologie, die als einzigen Weg reale Forschungen aner-
kennt, von einer fälschlichen Psychologie, die selber Philosophie oder vielmehr Phi-

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