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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0103
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IO

Psychologie der Weltanschauungen

losophieersatz ist. Die verstehende Psychologie hat in dieser wissenschaftlichen Situa-
tion einen zweideutigen Charakter. Sie ist wie ein großer, inhaltlich reich erfüllter
Raum zwischen Psychologie und Philosophie. Beide treten in ihn ein. Infolgedessen
ist die Frage nach der wissenschaftlichen Psychologie heute wohl scharf zu stellen,
aber die allgemeingültige, durchgeführte und von allen Forschern anerkannte Ant-
wort ist noch nicht gegeben.
Die in meiner Weltanschauungspsychologie ausgesprochene Absicht des unver-
bindlichen Betrachtens konnte die Auffassung dieses Buches in falsche Richtung len-
ken. Man hat darin eine Galerie von Weltanschauungen gesehen, die zur Wahl aufge-
stellt sei. Sie ist aber in der Tat die Vergewisserung der Möglichkeiten als eigener und
die Erhellung des weiten Raums, in dem die existentiellen Entscheidungen fallen, die
kein Gedanke, kein System, kein Wissen vorwegnimmt.
Diese faktische Verbindlichkeit wird im Mitdenken dem Leser fühlbar. Zwar wird
ihm nicht eindeutig gesagt, was wahr ist, aber in ihm erregt, was ihn zu Entscheidun-
XII gen veranlassen kann. In allem, was in dem Buch | anschaulich denkend ausgebreitet
wird, liegt daher eine Spannung. Denn in dem Dargestellten ist überall Wahrheit und
überall auch Irrtum gesehen: nicht Weltanschauungen zur Wahl, sondern in ihnen
die Richtung auf das nirgends greifbare Ganze des Wahrseins im Menschsein ist das
Thema. Mein Interesse war keineswegs das bloß psychologische an der Realität von
Weltanschauungen, sondern das philosophische an dem Wahrheitscharakter dieser
Weltanschauungen. Ich entwarf einen Organismus der Möglichkeiten, in allem mich
selber wiedererkennend und abstoßend. So stehe ich zu diesem Buche heute unverän-
dert mit Bejahung zu seinem Gehalt und seiner Tendenz.
Meine Lehrberechtigung, die mir damals ausdrücklich für Psychologie unter Aus-
schluß der Philosophie erteilt war,17 empfand ich nicht als Zwang, sondern als Entla-
stung von dem mir ungeheuer scheinenden Anspruch, Philosophie zu lehren. Doch
mein philosophischer Impuls drängte im Kleide der Psychologie zum Ganzen. Ich
wollte keine prophetische Philosophie und hatte noch keinen Begriff jener anderen,
heimlich schon gesuchten Philosophie. Diese hatte mich weder in pseudowissen-
schaftlichen Nichtigkeiten einer vermeintlichen Fachphilosophie, noch in den an-
spruchsvollen Verkündigungen einer vermeintlich endgültig erkannten Wahrheit an-
sprechen können. Der Zwang, Psychologie zu lehren, löste sachliche Notwendigkeiten
aus, die ohne jenen Zwang mir kaum klar geworden wären. Da ich unbewußt schon
philosophierte, konnte ich dieses Philosophieren, das man nicht planen kann, son-
dern aus dem man seine Pläne findet, später besser begreifen. In der Folge meinte ich,
meine Motive wiederzuerkennen bei den aus der Geschichte zu uns sprechenden Phi-
losophen. Vergangene Philosophie zu verstehen, setzt gegenwärtiges Philosophieren
voraus. Dieses aber kommt zu sich selber und steigert sich im Verstehen der Großen.18
Deren Größe wird um so erstaunlicher, unerreichbarer, je tiefer man in sie eindringt.
Aber jede Gegenwart hat sich selbst zu verwirklichen. Die Aufgabe, gegenwärtig zu tun,
 
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